Herr Rabbiner, die Situation in der Ukraine ist sehr angespannt. Sollten die Juden das Land verlassen oder bleiben?
Im Moment sehe ich, Gott sei Dank, keinen Grund, warum man das Land verlassen sollte. Es besteht keine direkte Gefahr für Juden. Die Situation ist angespannt und kritisch, aber derzeit stabil. Doch das kann sich ändern.
In den meisten jüdischen Gemeinden, vor allem im Osten des Landes, gibt es etliche Mitglieder mit russischen Wurzeln. Wie kommt man dort miteinander aus?
Ich habe mit Rabbinern und Gemeindevorsitzenden überall im Land gesprochen, auch im Osten. Alle wollen, dass die Ukraine vereinigt bleibt in den Grenzen von 1991, als sie ihre Unabhängigkeit erlangte. Auch von russischsprachigen Juden im Land habe ich nicht gehört, dass sie Russland beitreten wollen. Auf der Krim könnte es allerdings anders sein.
Die Einwohner der Halbinsel sollen am Sonntag darüber abstimmen, ob sie zu Russland gehören wollen. Was empfehlen Sie dortigen Juden?
Ich bin Rabbiner und mische mich nicht ins Wahlverhalten der Menschen ein. Aber ich halte das Referendum für illegal. Es widerspricht ukrainischem und internationalem Recht.
Vergangene Woche haben Sie Russland beschuldigt, mit antisemitischen Provokationen auf der Krim den Einmarsch zu rechtfertigen. Wie kamen Sie dazu?
Was wir zurzeit erleben, ist eine sehr zynische Instrumentalisierung des Antisemitismus. Es erinnert mich an die Zeit, als der Zar Pogrome anregte, um die Menschen von den Problemen im damaligen Russland abzulenken. Auf dieselbe Art benutzt Präsident Putin den Antisemitismus, um den Einmarsch zu rechtfertigen. Ich denke, dass es für uns als jüdische Gemeinde wichtig ist, dies offen auszusprechen und uns dagegen zu verwahren.
Trotzdem gibt es ihn, den Antisemitismus in der Ukraine. Die dafür bekannte Swoboda-Partei stellt in der neuen Kiewer Regierung drei Minister. Wie gefährlich sind die Nationalisten für die Juden im Land?
Es ist nur eine Übergangsregierung. Weil das Land in einer Krise steckt, war es wichtig, möglichst viele Parteien zusammenzubringen. Ich habe mit Ministerpräsident Arseni Jazeniuk und dem Präsidentschaftskandidaten Vitali Klitschko gesprochen. Beide garantieren für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde und übernehmen die Verantwortung für die Swoboda-Mitglieder in der Regierung. Wenn Putin nicht die Ukraine bedrohte, würden wir gewiss die Nationalisten als Hauptgefahr betrachten. Doch unter den derzeitigen Umständen kommt die größte Gefahr von außen.
Unter Juden in der Ukraine ist Kritik zu hören, es gebe zu wenig Hilfe aus Israel.
Die Jerusalemer Regierung unterstützt uns auf verschiedene Weise. Zum Beispiel sind vergangene Woche neun Ukrainer, die im Februar auf dem Maidan verwundet wurden, zur medizinischen Behandlung nach Israel ausgeflogen worden. Man hat sie dort überaus fürsorglich und herzlich empfangen. Wir sind der israelischen Regierung sehr dankbar. Ich glaube, es ist jetzt nicht die Zeit, herumzukritteln, sondern wir müssen als jüdische Gemeinschaft zusammenstehen und überlegen, wie wir dabei helfen können, dass die Ukraine die Krise überwindet.
Sie tragen Ihren Teil dazu bei, indem Sie in den USA mit jüdischen Organisationen und der Regierung sprechen.
Ja, wir arbeiten vor allem mit NCSJ, der »National Conference Supporting Jews in Russia, Ukraine, the Baltic States & Eurasia«, eng zusammen. Es ist wichtig, dass auch die amerikanische Regierung von den Sorgen und Nöten der Juden in der Ukraine erfährt.
Sind Sie zufrieden mit dem, wie Washington auf die Krise in der Ukraine reagiert?
Wir würden gern Konkreteres sehen, aber ich denke, die Regierung tut, was sie kann, um unser Land zu unterstützen. Wir wollen keinen Krieg, sondern Frieden durch Verhandlungen. Wir hoffen, dass es den USA und den europäischen Verbündeten gelingen wird, Moskau ausreichend unter Druck zu setzen, sodass es zur Einsicht kommt. Denn was Russland derzeit auf der Krim tut, sendet ein schlechtes Signal in die Welt.
Sie sind vergangene Woche mit US-Außenminister John Kerry zusammengetroffen und haben ihn gebeten, sich dafür einzusetzen, dass der G8-Gipfel im Juni nicht in Sotschi, sondern – sehr symbolisch – in Kiew stattfinden soll. Was hat Kerry Ihnen geantwortet?
Er sagte, es sei eine gute Idee. Aber die Entscheidung hänge eben nicht nur von den USA ab, sondern auch von den anderen G7-Staaten. Ich würde mich sehr freuen, wenn die jüdische Gemeinschaft in Deutschland Bundeskanzlerin Merkel bitten würde, der Verlegung des Gipfels nach Kiew zuzustimmen. Das wäre ein sehr wichtiges Signal.
Am Sonntag sprach der erst im Dezember aus der Haft entlassene frühere Oligarch Michail Chodorkowsky bei einer Demonstration auf dem Kiewer Maidan. Dabei zitierte er den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko: »Kämpft, und ihr werdet siegen, Gott ist auf eurer Seite.« Hat er recht?
Ich denke, die Ukraine ist ein Land, das Gott gesegnet hat. Das ukrainische Volk kämpft heute für Freiheit, Wahrheit, Demokratie und gegen Lüge und Propaganda. Ich denke, Gott ist mit der Wahrheit.
Mit dem Oberrabbiner der Ukraine und Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses sprach Tobias Kühn.