Mehr als ein Jahr ist es her, da feierte die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) ihren 75. Geburtstag. Damals wurde in der größten jüdischen Gemeinde der Schweiz auch über die Rolle und vor allem über die Zukunft der Bibliothek diskutiert. Die ist nun geregelt: Ein Verein, hinter dem der Schriftsteller und Autor Charles Lewinsky steht, konnte genügend Geld auftreiben, um die Übergabe an eine große städtische Bibliothek zu verhindern.
Umso überzeugender kommt nun dieser große Sonderband mit dem Titel Quelle lebender Bücher quasi als aktuelles Lebenszeichen der Bibliothek daher. Die Bücher leben und mit ihnen auch die Bibliothek, in der die Bücher stehen. Das dokumentiert das Buch auf eindrückliche Art und Weise.
Initiatorinnen sind die beiden Bibliothekarinnen Yvonne Domhardt und Kerstin A. Paul, die auch eine Art Vorwort verfasst haben. Es würde da um die Ehrung einer Bibliothek gehen, die »Lesestoff für die Kleinsten bis hin zur Mittneunzigerin« bereithalte, schreiben sie.
Inhalt 75 Autorinnen und Autoren beleuchten in meist kurzen Artikeln jeweils ihr ganz spezielles Lieblingsbuch. Die Zeitspanne reicht dabei von der großen Reise des Jacob von Ancona im Jahre 1270 bis zu den Kriminalromanen der 2005 gestorbenen israelischen Autorin Batya Gur oder dem in der Literaturszene gefeierten Roman Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse des Zürcher Autors Thomas Meyer. Und selbstverständlich darf auch das »Buch der Bücher«, die Tora, nicht fehlen.
Die speziellen Leckerbissen in dem Buch sind eindeutig Artikel wie der von Chana Berlowitz über Jacob von Ancona. Selbst unmittelbar vor einer China-Reise stehend schreibt sie, wie der Bericht aus dem Mittelalter sie fasziniert habe. Im 13. Jahrhundert war der Kaufmann aus Italien im reifen Alter von 48 Jahren zu seiner Weltreise aufgebrochen – nicht ohne vorher seiner Frau Sara einen provisorischen Scheidebrief zu übergehen. Dies, damit sie sich wiederverheiraten könnte, sollte er auf der Reise ums Leben kommen. Eine weise, aber letztlich zum Glück unnötige Handlung.
Drei Jahre später kehrt er nach Italien zurück, mit großen Reichtümern im Gepäck: mit Eindrücken, die er in einer Art Tagebuch festgehalten hat. So schreibt er über das chinesische Zaitun, das Jacob als »Stadt des Lichts« beschreibt, wo unter 200.000 Einwohnern (für damalige Verhältnisse eine riesige Stadt) sage und schreibe 2000 Juden leben, die in einer mehr als 300 Jahre alten Synagoge beten.
Dass Jacob trotz seiner religiösen Lebensführung auf seiner Reise in puncto ehelicher Treue ins Wanken gerät, erfährt der Leser aus dem Satz: »Die Frauen sind die schönsten der Welt, möge G’tt mich verschonen.« Mehr zum Thema ist im Reisebericht dann allerdings auch nicht zu erfahren.
Frauenbibel Sehr gelungen ist auch der Artikel »Die wertlose Bibel« der Zürcher Journalistin Vivianne Berg. Sie verbindet eine kurze Geschichte der sogenannten Frauenbibel »Zenne Renne«, über deren genaue Entstehung wie über die exakte Schreibweise viel geschrieben und gestritten wird, mit einem Teil ihrer persönlichen Familiengeschichte. Klar ist, dass »Zenne Renne« aus dem Hohelied stammt, wo es heißt: »Zeenoh ureenoh benaus Zion – kommt hinaus und schauet, ihr Töchter Zions«.
Klar sei auch, schreibt Berg, dass das Buch, das irgendwann von ihrer Mutter in ihren Besitz übergegangen ist, schon einige Male mit ihr umgezogen ist. Gleichzeitig öffnet sie einen kleinen Spalt ihrer Familiengeschichte, und man erfährt beispielsweise, dass ihr Vater nicht nur im Synagogenchor der ICZ, sondern auch im Zürcher Polizei-Männerchor mitgesungen hat – eine seltene Kombination.
Quelle lebender Bücher ist ein äußerst gelungenes Geburtstagsgeschenk der ICZ-Bibliothek an sich selbst – sowie an interessierte und gespannte Leser.
Yvonne Domhardt und Kerstin Paul (Hrsg.): »Quelle lebender Bücher. 75 Jahre Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich«. edition clandestin, Zürich 2016, 272 S., 37,50 €