Wer in Zürich eine lustige Party oder eine deftige Parteiversammlung plant, ist mit dem Schützenhaus »Albisgüetli« gut bedient. Dort finden jedes Jahr das Country Music Festival statt – und ebenso Versammlungen der rechtsnationalen SVP. Das alte Haus oben am Berghang wird aber auch gerne für jüdische Hochzeiten gebucht, vor allem, wenn viele Gäste kommen.
An diesem herbstlichen Abend wird allerdings nicht getanzt. Ein alter Rabbi aus den USA und Verfasser von mehr als 100 Büchern steht hinter dem Rednerpult. Seine Stimme bebt: Die Zürcher Juden sollen sich losreißen aus den Fängen des Internets. Der Titel der Veranstaltung lautet (ins Deutsche übersetzt): »Erweckungskongress zur Stärkung gegenüber den technologischen Problemen«.
Sex? Nie! Das hört sich nach Borat an, hat aber einen ernsten Hintergrund: Viele orthodoxe Jugendliche in Zürich halten die Mizwot nicht mehr. Sie haben im Internet eine neue Welt entdeckt. Bis sie 18 wurden, war ihr Leben von religiösen Pflichten bestimmt. Zeitvertreib? Selten. Sex? Nie. Doch mit dem ersten Handyvertrag strömt nun eine gewaltige Flut von Bildern und Meinungen auf sie ein. Viele sehen zum ersten Mal nackte Frauen: verführerische Gestalten, die gojisch sind und Sünde. Und dann sind da auch noch die 1000 Seiten, die ebenfalls besucht werden müssen: Facebook, YouTube, YouPorn ...
Das ist den Rabbinern aufgefallen. Sie versuchten bereits vor zehn Jahren, diese Zersetzung zu stoppen, und zwar durch Verbote. Nur wer einen Brief unterschrieb, dass zu Hause kein Computer mit Internetzugang herumsteht, durfte seine Kinder auf Zürichs orthodoxe Schulen schicken. Dann kamen die Internetfilter auf. Jedes Mitglied musste seinen Computer mit einem Filter aufrüsten. Der Filter siebt alle Seiten aus, auf denen Frauen abgebildet werden.
An diesem Montagabend geht es um den nächsten Schritt: Auch die Smartphones müssen koscher werden. Es könne doch nicht angehen, dass jüdische Frauen WhatsApp-Nachrichten verschicken. Sie sollen Handys besitzen, mit denen man nur telefonieren kann. So geschieht keine Sünde. Die Rabbiner stellen nun fünf verschiedene Koscher-Zertifikate für die Handys vor. Gewährsleute kleben den Hausfrauen vorne und hinten einen Sticker an ihr klobiges Gerät. So sieht man von Weitem: Diese züchtige Frau benutzt ein koscheres Handy, das fast nichts kann. Ein Raunen geht durch den Albisgüetli-Saal. Der Rabbiner beschwichtigt: Klar. Geschäftsleute (also Männer) dürfen auch weiterhin im (gefilterten) Internet surfen. Jetzt sieht man erleichterte Gesichter.
Ehepaare Zuvor wurde an diesem Abend mehrmals versucht, eine weihevolle Stimmung heraufzubeschwören. Ein Rabbiner las zwei Kapitel Psalmen vor. Ein anderer segnete den »Erweckungskongress zur Stärkung gegenüber den technologischen Problemen«. Ein dritter Rabbiner schilderte äußerst anschaulich, wie die Nutzung des Smartphones die Familienidylle zerstört: Mütter reden nicht mehr mit den Kindern, und Ehepaare texten sich zu, statt miteinander ins Gespräch zu kommen.
Vieles davon leuchtet durchaus ein. Jeder, der Kinder hat, kennt die »technologischen Probleme«. Einige Meinungen könnten auch von nichtjüdischen Pädagogen stammen. Rabbi Abraham Schorr ruft in die Menge: »Die Rabbonim rejden kajn Narischkeiten!« (Die Rabbiner reden keinen Stuss). Das stimmt. Die meisten von ihnen werden täglich mit Anfragen konfrontiert: Rabbi hilf uns, rein zu bleiben!
Aber kann man Frömmigkeit durch Verbote und Restriktionen erwirken? Liegt denn nicht der Schlüssel in der eigenen Medienkompetenz? Diese Rabbiner sagen: Nein. Es brauche Gesetze. Wer hier im Saal von sich behaupte, gegen die Versuchungen alleine anzukämpfen, befinde sich auf dem Holzweg. Die 21 Rabbiner auf der Ehrentribüne wollen das nicht zulassen.
Am Ende stehen alle auf. Ein Rabbi ruft: »Schma Jisrael – Höre Israel, dein Gott ist einzig!« Tausend Kehlen sagen den Satz mit lauter Stimme nach. Draußen empfängt sie kühle Abendluft. Die Menschen zücken ihre Handys und lachen.