»Mit Erpressern diskutiert man nicht«, donnert der rechtsradikale Abgeordnete Robert Bakiewicz vergangene Woche ins spärlich besetzte Parlament Polens – Corona raubt der Partei Konfederacja das große Publikum. Dabei gilt es doch, Polen vor einer völlig »unberechtigten 300 Milliarden-Dollar-Forderung« zu retten.
Schon 1996 habe Israel Singer, der damalige Vorsitzende der World Jewish Restitution Organization, gedroht: »›Wenn Polen nicht die Forderungen der Juden erfüllt, wird es öffentlich attackiert und international gedemütigt‹ – und genau mit dieser Situation haben wir es heute zu tun«, so Bakiewicz.
Statt empörter Aufschreie der Abgeordneten hört Bakiewicz nur die unaufgeregte Stimme Ryszards Terleckis, der die Sitzung leitet: »Danke. Sie haben ihre Redezeit aufgebraucht.« Als Bakiewicz weiterspricht, stellt ihm Terlecki das Mikrofon ab und eröffnet die Debatte.
Entsetzen Monika Krawczyk, Anwältin und Vorstandsmitglied des Jüdischen Gemeindebundes in Polen, verfolgt im Internet die Debatte über das Projekt »Stop 447« oder – wie es offiziell heißt – das »Gesetz über Eigentumsschutz der Republik Polen vor Forderungen nach erbenlosen Vermögen«.
Krawczyk ist entsetzt. Als ehemalige Chefin der Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes (FODZ) verhandelte sie die Rückgabe von Synagogen, jüdischen Krankenhäusern, Schulen und Friedhöfen, die unmittelbar nach dem Krieg vom Staat enteignet worden waren. Doch während andere Glaubensgemeinschaften wie die katholische Kirche die Rückgabe längst abgeschlossen haben, sind viele Restitutionsverfahren der polnischen Juden immer noch offen.
Krawczyk schreibt sofort einen Kommentar für die konservative Tageszeitung »Rzeczpospolita«. Sie appelliert an Polens Abgeordnete, bei der Abstimmung am nächsten Tag das Gesetzesprojekt »Stop 447« der Konfederacja schon nach der ersten Lesung zu verwerfen und stattdessen endlich das lange von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) angekündigte Reprivatisierungsgesetz auf den Weg zu bringen. Denn, so macht sie klar: Ein Problem mit »erbenlosem Eigentum« der von den Nazideutschen ermordeten Schoa-Opfer gebe es gar nicht, sehr wohl aber ein Problem mit verstaatlichtem Eigentum polnischer Staatsbürger durch die polnischen Kommunisten.
Polen hat als einziges EU- und ehemaliges Ostblockland bis heute kein Reprivatisierungsgesetz verabschiedet.
Polen hat als einziges EU- und ehemaliges Ostblockland bis heute kein Reprivatisierungsgesetz verabschiedet. So muss jeder Alteigentümer oder Erbe in Polen den langwierigen und teuren Gerichtsweg gehen, dessen positiver Ausgang keineswegs sicher ist. Dieser Weg steht grundsätzlich auch enteigneten Schoa-Opfern und deren Erben offen. Viele katholische Polen fürchten daher um ihre Wohnungen und Häuser, die sie während des Krieges oder unmittelbar danach von den über drei Millionen ermordeten oder auch nur »verschwundenen« Juden übernommen haben.
Theresienstädter Erklärung Im Jahr 2009 unterzeichnete Polen als eines von 47 Ländern die sogenannte Theresienstädter Erklärung über die Restitution von Vermögenswerten, die Juden während des Zweiten Weltkriegs oder kurz danach geraubt worden waren. Polen errichtete dann zwar in Warschau das heute weltweit gerühmte Museum der Geschichte der polnischen Juden, packte aber das heikle Problem der Restitution nicht an.
Als dann 2017 in den USA der JUST Act 447 (Justice for Uncompensated Survivors Today) verabschiedet wurde, demzufolge das US-Außenministerium dem amerikanischen Kongress 2019 einen Bericht über die Restitutionsgesetzgebung nach der Theresienstädter Erklärung vorlegen sollte, interpretierten das polnische Rechtsradikale als direkten Angriff der »jüdischen Lobby in den USA« auf Polen. Damals entstand die antisemitische »Stop 447«-Bewegung.
Krawczyks Appell, die Gesetzesinitiative fallen zu lassen, verhallte ungehört. Neben der Konfederacja stimmte auch die Regierungspartei PiS für das Projekt und seine weitere Beratung in einem Ausschuss. Ob das Gesetz eine zweite Lesung passieren wird, ist ungewiss − doch das Signal, das Polen aussendet, ist fatal.