Ukraine

Erst wurden die Opfer ermordet, dann die Erinnerung

Das Jüdische Monument in Babi Jar Foto: Natan Sznaider

Über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk. Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.»
Jewgeni Jewtuschenko, 1961
(Übersetzt von Paul Celan)

In Babi Jar wurde Ende September ein schöner Ort eröffnet. Anlass war der 75. Jahrestag des von den Nazis an den Juden verübten Massakers. Innerhalb von 36 Stunden wurden in dieser Schlucht mehr als 33.000 Juden aus nächster Nähe erschossen. Babi Jar wurde trotz der Verhandlungen in Nürnberg nie zur Holocaustikone. Das war Auschwitz überlassen.

Und jetzt, jenseits der europäischen Grenze, ist die neu eröffnete Anlage ein angenehmer Ort: pastorale Alleen, schöne Schilder, Laternen, damit man auch am Abend spazieren gehen kann. Alle Opfer sind in Eintracht der Schilder vereint – jüdische Opfer und die ukrainischen Helfer der Nazis. Auch Roma, Behinderte, Katholiken, Zwangsarbeiter und andere wurden in Babi Jar umgebracht. Alle Gruppen haben ihre eigene Gedenktafel, ein eigenes Kunstwerk, eine eigene Geschichte. Es gehe nicht nur um den Holocaust, erklärt der Guide.

Babi Jar hat sich also aus der jüdischen Umklammerung gelöst. Jedem, der anders denkt, wird vorgehalten, er sitze der zionistischen Propaganda auf. Und diejenigen, die die ukrainische Kollaboration mit den Nazis betonen – wie es Israels Präsident Reuven Rivlin am 28. September im ukrainischen Parlament tat –, werden als Opfer früherer sowjetischer und heute russischer Propaganda verunglimpft.

Verrat Waren die ukrainischen Nationalisten nicht auch Opfer der Sowjets? Sie kollaborierten mit den Nazis, um sich von diesem Joch zu befreien, später dann verrieten die Nazis sie auch. Und so sieht sich die Ukraine als eine vom Osten und Westen verratene Nation: 1939 durch das Abkommen Nazi-Deutschlands mit den Sowjets, den Einmarsch der Nazis 1941 und die an den Juden und anderen verübten Massaker – vom heutigen Verrat des Westens an dieser Nation ganz zu schweigen.

Man will der ermordeten Juden in Babi Jar erinnern, das ist (west-)europäischer Geist. Aber man will auch der eigenen Helden gedenken, trotz ihrer Verbrechen. Das ist (ost-)europäischer Geist. Und auch diese Geister sind anwesend, ob man will oder nicht.

«Die Zeit ist aus den Fugen», erschrickt sich Prinz Hamlet, mit dem Geist seines Vaters konfrontiert. So ist auch die Zeit in Babi Jar aus den Fugen. Babi Jar liegt in Kiew. Kiew liegt in der Ukraine. Die Ukraine gehört einerseits zu Europa – und andererseits auch wieder nicht.

Sowjets Im sowjetischen hegemonialen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges hatten – von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie dem Gedicht «Babi Jar» von Jewtuschenko von 1961 – ethnische Juden als Opfer keinen Platz. Die Sowjets wussten nicht, was ethnische Erinnerung ist. Das hat auch im Universalismus der Linken bis heute seinen festen Ort. Der ethnische Pluralismus der heutigen Gedenkstätte in Babi Jar ist eigentlich nichts anderes als der vorgehaltene Spiegel des sowjetischen Universalismus mit umgekehrtem Vorzeichen. Hier lässt der identitäre Diskurs grüßen. Das offizielle staatliche Erinnern der Sowjets hat die Juden aus der Geschichte herausgestrichen. Die Nazis ermordeten die Juden, und die Sowjets ermordeten die Erinnerung daran.

Die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gegenerinnerungen schließen die Juden nun durch die Erdrückung der Opfervielfalt aus. So wird der Besucher mit einer englischsprachigen Tafel mit folgendem Text begrüßt: «Babi Jar ist der Ort von Massenhinrichtungen von Menschen verschiedenster Nationalitäten, Religionen, politischer Überzeugungen. Der Höhepunkt der Grausamkeit. Unser Schmerz, unsere Erinnerung. Einer der schrecklichsten Orte der Chronik des Bösen und des Leidens, die mit menschlichem Blut geschrieben wurde.»

Wer daran zweifelt, dass Babi Jar etwas mit der Schoa zu tun hat, sollte sich nochmals den Vierteiler Holocaust ansehen oder auch Katja Petrowskajas Vielleicht Esther und Jewtuschenkos Gedicht lesen. Aber in Babi Jar gibt es Babi Jar nicht mehr.

Der Autor ist Professor für Soziologie in Tel Aviv.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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