Es gibt Geschichten, die möchte man nicht schreiben. Als der Wunsch aus der Redaktion kam, über den wachsenden Antisemitismus in den USA zu berichten, war die erste Reaktion: Das hatten wir doch gerade. Außerdem sind die Tage Trumps doch vorbei.
Auch Journalisten neigen manchmal zu der Maxime, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die USA, jener Zufluchtsort für die Geschundenen dieser Welt, die Goldene Medine – das Land, das auch die eigene Familie vor der Gaskammer bewahrt hat und nicht nur deshalb eine Herzensangelegenheit ist … Bullshit, wie die Amerikaner sagen. Die Redaktion hatte recht.
Die Vereinigten Staaten haben ein fundamentales Problem mit Judenhass.
Rund zehn Monate nach dem Sturm aufs Kapitol, als der faschistische Mob per Sternfahrt den Lockrufen des abgewählten Zündlers im Weißen Haus folgte, ist das Problem Antisemitismus in den Vereinigten Staaten bedrohlicher denn je. Bei Erscheinen dieser Zeitung ist einer der jüngsten – bekannt gewordenen – judenfeindlichen Exzesse gerade einmal 96 Stunden alt. Am frühen Sonntagmorgen drangen Unbekannte in das Verbindungshaus von »Tau Kappa Epsilon« auf dem Campus der George Washington University (GWU) in der US-Hauptstadt ein.
Die Täter brachen einen Raum auf, der für Aufnahmerituale von Neumitgliedern genutzt wird. Dort werden unter anderem eine Bibel und eine Torarolle aufbewahrt, die zur Einschwörung neuer Verbindungsmitglieder genutzt werden. Die Torarolle wurde aufgerissen und mit blauem Spülmittel übergossen, die Bibel blieb unberührt. Zudem wurden Wände und Küchengegenstände in dem Raum mit scharfer Sauce beschmutzt, wie die Studentenzeitung »The Hatchet« mitteilte. Wenige Tage zuvor hatte eine jüdische Studentin der GWU ein Hakenkreuz zugesandt bekommen.
ANSCHLAG »Wieder und wieder manifestiert sich auf diesem Campus das Böse in Gestalt von Antisemitismus«, hieß es so hilflos wie pathetisch in einem Statement der Gruppe »GW for Israel«. Der Anschlag von Washington, so dilettantisch er auch gewesen sein mag, wirft ein besonderes Schlaglicht auf die Dramatik der Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Denn die 1821 gegründete Privathochschule gehört zu den angesehensten akademischen Institutionen in den USA. Sie, deren Gründung von George Washington angeregt und engagiert verfolgt wurde, ist praktisch die akademische Fackel all der Werte, für die die Vereinigten Staaten stehen.
Dass auf deren Campus im Jahr 2021 Torarollen geschändet werden, ist deshalb umso ungeheuerlicher und zeigt, dass die Vereinigten Staaten fundamentale Probleme mit Antisemitismus haben.
Am 25. Oktober, sechs Tage vor der Attacke von Washington, veröffentlichte das American Jewish Committee (AJC) seinen diesjährigen Report »The State of Antisemitism in America 2021«. Es ist ein erschütterndes Dokument. Beinahe jeder vierte US-amerikanische Jude gab laut AJC an, im vergangenen Jahr selbst Antisemitismus erlebt zu haben. 25 Prozent der jüdischen Befragten sagten, sie hätten in den vergangenen zwölf Monaten vermieden, Aussagen in den sozialen Medien zu posten, die sie als Juden identifizierbar machen könnten.
Und 71 Prozent der Befragten schilderten, sie hätten während der Attacken der Hamas auf Israel im Mai von Angriffen auf Juden in den USA und weltweit gehört. Für 45 Prozent stellt die extreme Rechte in den USA eine »sehr starke antisemitische Bedrohung« dar, für weitere 28 Prozent eine »recht große«. 19 Prozent sehen die extreme politische Linke als »sehr starke antisemitische Bedrohung«, weitere 19 Prozent als eine »recht große«. Für 24 Prozent ist »Extremismus im Namen des Islam« eine »sehr starke antisemitische Bedrohung«, für 28 Prozent eine »recht große«.
DREIKLANG Wenn eine Mehrheit der amerikanischen Juden auch immer noch eher demokratisch wählt und somit Gefahren implizit mehr auf der rechten Seite des politischen Spektrums verankert, so wird doch in dem AJC-Report der auch in Deutschland und Europa inzwischen geläufige Dreiklang des Antisemitismus, »rechts, links, islamistisch«, durch die Aussagen der Befragten hinreichend repräsentativ belegt.
Die »Goldene Medine« scheint heute eher Kanada zu sein.
Was ist also geblieben von der »Goldenen Medine«, jenem goldenen Land, als das jiddischsprachige Emigranten die USA über Generationen hinweg zu bezeichnen pflegten? Googelt man »Di Goldene Medine«, so kommen auf den ersten Seiten ausschließlich Einträge über Kanada vor …
Kein Wunder, dass der Jüdische Weltkongress (WJC), das alte Schlachtschiff im Kampf gegen den Antisemitismus, jetzt die Kräfte bündelt und eine Kooperation mit der erst 2020 als Instagram-Kampagne ins Leben gerufenen Organisation »Jewish on Campus« einging. Denn schließlich fühlte sich ein Drittel aller jüdischen Studierenden in den vergangenen Monaten direkt von Antisemitismus betroffen.
SCHÄNDUNG Der letzte Übergriff war die Schändung der Tora an der GWU übrigens nicht. Im Verlauf des vergangenen Sonntags wurde Feuer an der Synagoge der Congregation Beth Israel in Austin (Texas) gelegt. Ursache des Feuers war ein Brandbeschleuniger, so die Polizei. Zum Glück wurde niemand verletzt. Der Schaden soll sich auf 25.000 Dollar belaufen.
In Austin hatte es in den vergangenen Wochen mehrere antisemitische Vorfälle aus allen Richtungen des politischen Judenhasses gegeben. Von ganz links bis neonazistisch, wie die Polizei mitteilte. Darunter auch Hate Speech sogenannter rassischer und ethnischer Minderheiten.
Von denen fühlen sich nämlich laut AJC-Report zehn Prozent der amerikanischen Juden »sehr stark antisemitisch bedroht«, 22 Prozent immerhin noch »recht stark«.
Es gibt wirklich Texte, die schreibt man nicht gern.