In den Vereinigten Staaten fällt Sukkot, das Laubhüttenfest, in diesem Jahr mit zwei anderen Feiertagen zusammen: Columbus Day und Indigenous Peoples’ Day. Der erste ehrt den italienischen Entdecker Christoph Kolumbus und wurde 1934 ausgerufen, um der unter Rassismus leidenden italienischen Minderheit in den USA den Rücken zu stärken.
Weitaus jünger ist der Indigenous Peoples’ Day (Tag der eingeborenen Völker oder Ureinwohner). Er entstand aus einer Protestbewegung gegen den Columbus Day. Erstmals 1977 bei einer Konferenz der Vereinten Nationen zur Sprache gebracht, wuchs in den 80er- und 90er-Jahren mehr und mehr das Bewusstsein für die problematischen Seiten des Columbus Day.
interessenvertreter Kolumbus’ Ankunft an der Küste Nordamerikas 1492 ging zulasten der dort lebenden eingeborenen Stämme. Interessenvertreter der Nachfahren dieser Ureinwohner hatten es sich zum Ziel gemacht, eine Art »Gegen-Feiertag« durchzusetzen, an dem die Verdienste eingeborener Kulturen um das Gemeinwohl der Vereinigten Staaten gewürdigt werden. Im vergangenen Jahr erkannte mit Joe Biden zum ersten Mal ein amerikanischer Präsident den Indigenous Peoples’ Day offiziell an.
»Für mich ist die Tatsache, dass es diesen Feiertag gibt, ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung der Mehrheitsgesellschaft«, sagt die jüdisch-indigene Comiczeichnerin Emily Bowen Cohen. »Wir sind wichtig genug, um einen eigenen Feiertag zu haben.« Einige Städte und Staaten sind sogar so weit gegangen, den Columbus Day durch den Indigenous Peoples’ Day zu ersetzen. Andere feiern beide gemeinsam oder an aufeinanderfolgenden Montagen im Oktober.
Weil Columbus Day und Indigenous Peoples’ Day in diesem Jahr auf den ersten Tag von Sukkot fallen, hat die jüdische Hilfsorganisation MAZON, die sich der Bekämpfung des weltweiten Hungers verschrieben hat, ein Kompendium mit Quellen und Links zusammengestellt. Es soll Jüdinnen und Juden dabei helfen, die Gemeinsamkeiten mit indigenen Kulturen zu erkunden und Verantwortung zu übernehmen.
suchmaschine Am Anfang steht eine Reihe von Fragen, die auf das Verhältnis zwischen Land, Ernte und Nahrungsmittelsicherheit eingehen. Als Erstes wird gefragt, auf wessen Boden die jeweilige Sukka steht, in der gefeiert wird. Dazu gibt es im Internet eine Suchmaschine, in die man seine Adresse eintippen kann, und dann erfährt man, welchem indigenen Stamm oder welchem Volk dieser Ort einst gehört hat.
Neben Anregungen zur Diskussion in der Sukka verweist MAZON auf diverse politische Projekte zur Förderung indigener Angelegenheiten, die mit Land und Ernährung zu tun haben, so zum Beispiel auf die Initiative »Sioux Chef«. Zu dem Projekt, das zwei indigene Köche ins Leben gerufen haben, gehören ein Kochbuch, eine Wohltätigkeitsorganisation und das »Owamni«.
In dem kürzlich zum besten neuen Restaurant in den USA gekürten Lokal in Minneapolis wird ausschließlich mit Produkten gekocht, die vor der Ansiedlung europäischer Einwanderer in Amerika vorhanden waren. Dies schließt zum Beispiel heute auf Speisekarten weit verbreitete Lebensmittel wie Weizen, Rohrzucker und Hühnchen aus.
schmitta-jahr Die Familie der Comiczeichnerin Emily Bowen Cohen gehört der Muscogee Nation an, einem im Bundesstaat Oklahoma ansässigen Stamm mit mehr als 80.000 Angehörigen. Für die 37-Jährige ist die Verbindung indigener und jüdischer Kultur nichts Neues. »Traditioneller jüdischer Ackerbau folgt beispielsweise ähnlichen Prinzipien, wie es indigene Landwirte tun«, sagt sie. »So wird im Schmitta-Jahr, dem siebten Jahr, der Boden nicht bearbeitet, damit die Erde sich ausruhen und erholen kann«, erklärt sie.
Ihrer Internetseite hat Cohen den Titel »Ein Mitglied zweier Stämme« gegeben – in Anspielung darauf, dass das Judentum für viele nicht nur eine Religion ist, sondern auch eine Volkszugehörigkeit. Trotz der Gemeinsamkeiten der beiden Kulturen, mit denen sie aufwuchs, war es für sie nicht immer einfach, ihre beiden Identitäten zu vereinen.
Auch indigene Landwirte lassen den Boden im siebten Jahr ruhen.
»In einer indigenen Umgebung fühle ich mich jüdischer, und wenn ich mich in einer jüdischen Umgebung aufhalte, dann fühle ich mich mehr wie eine Eingeborene«, sagt die Mutter dreier Kinder. Diese Erfahrung, fügt sie hinzu, teile sie mit anderen, die aus einem gemischt-ethnischen Elternhaus kommen.
»Man fühlt sich, als ob man in der Mitte feststeckt. Ständig versucht man, jeweils einen Fuß in einer Kultur zu haben.« So fühle sie sich zum Beispiel, wenn sie sich in jüdischen Kreisen Indianerwitze anhören müsse, »sehr fremd«, sagt Cohen traurig.
Auf der anderen Seite gebe es aber auch Momente, die es ihr einfach machten, vollkommen sie selbst, also eingeboren und jüdisch, zu sein. Einer ihrer Lieblingsmomente ist das Tanzen mit der Tora an Simchat Tora. »In meinem Stamm zeigen wir unsere Wertschätzung für Gott unter anderem dadurch, dass wir im Kreis tanzen. Das erinnert mich immer an Simchat Tora«, sagt Cohen.
einwohner Die meisten indigenen Einwohner der Vereinigten Staaten leben in Alaska. Oklahoma, wo die Familie von Cohens Vaters herkommt, steht an zweiter Stelle. Cohens Mutter ist eine Jüdin aus New Jersey. Um den Kindern eine jüdische Bildung zu ermöglichen, fuhren die Eltern zwei Stunden mit dem Auto zur nächsten Synagoge, die auch eine religiöse Schule betreibt. »Dort waren meine Schwester und ich die einzigen ›gemischten‹ Kinder«, erzählte Cohen jüngst in New York bei einer Diskussionsveranstaltung des Museum of Jewish Heritage. Erst als sie nach dem Tod des Vaters an die Ostküste zogen, erlebten sie etwas anderes. Dort gab es mehr »Jews of Color«. Seitdem verspürt Cohen eine besondere Verbindung zu anderen nichtweißen Juden.
Cohen war erst neun, als ihr Vater starb. Nach dem Umzug verlor sie die Verbindung zum Stamm des Vaters in Oklahoma. Erst als Erwachsene nahm sie wieder Kontakt mit dieser Seite ihrer Familie auf.
Heute lebt sie mit ihrem orthodoxen Mann und den drei gemeinsamen Kindern in Los Angeles, wo die Familie den Gottesdienst einer orthodoxen Gemeinde besucht. Sukkot wird Cohen traditionell verbringen. »Wir bauen eine Sukka, nehmen darin unsere Mahlzeiten ein, und mein Mann und mein Sohn werden wahrscheinlich auch eine Nacht in der Sukka schlafen.«