Griechenlands Banken blieben Anfang der Woche geschlossen. Wie viele andere Institutionen in Griechenland verfügt in diesen Tagen auch die jüdische Gemeinde nicht über genügend Bargeld. Mehr als 50 bedürftige Familien, die auf die Hilfe der Gemeinde angewiesen sind, erhielten nach einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency vergangene Woche Lebensmittelgutscheine, die sie im Supermarkt einlösen können.
Das Referendum am Sonntag hat Griechenlands wirtschaftliche Lage nicht verbessert, aber es geht ein Aufatmen durchs Land. Niemand konnte vorhersagen, wie der Volksentscheid ausgehen würde. In der Bevölkerung lag auf der einen Seite die Angst vor einem unsicheren Morgen, auf der anderen Seite aber machten sich Wut und Enttäuschung breit – über die Rigorosität, die manche Vertreter aus den 19 Euroländern während der Verhandlungen an den Tag legten, und darüber, wie vernichtend die internationale Presse über Griechenland berichtete.
Schuldenschnitt Bei vielen Griechen, auch bei den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden im Land, stand immer wieder die wichtige Frage im Raum, ob die erste linke Regierung in Europa die Probleme im Land wohl lösen könnte. Trotz der 61 Prozent Nein-Stimmen ist das Land auch diese Woche noch gezeichnet von Klientelismus, Korruption, Staatsverschuldung, einem nicht ausreichend reformierten öffentlichen Sektor und einer seit Jahren leidenden mittelständischen Wirtschaft, die von der Krise besonders betroffen ist. Europa werde wohl nicht um einen Schuldenschnitt umhinkommen, hört man in der jüdischen Gemeinde immer wieder. Viele fragen sich allerdings, wie lange es wohl noch dauern werde, bis Europa sich darüber im Klaren ist.
Mit Sorge und Spannung blickt man auf die neuen Verhandlungen, die Griechenlands Regierung mit den europäischen Partnern zu führen hat. Der Präsident des Zentralrats der griechischen Juden, Moses Constantinis, sagte der Jüdischen Allgemeinen, er hoffe, dass man nun endlich die erhofften Ergebnisse erzielen kann, die vor allem der Wirtschaft den nötigen Auftrieb geben, damit das Land wieder auf die Beine kommt. Ähnliche Ansichten hört man auch von Juden in Thessaloniki. Vor allem Geschäftsleute hoffen, dass Griechenland auch nach dem Referendum als ernst zu nehmender Partner gesehen wird. Schließlich habe nicht nur die griechische Regierung entschieden, sondern »der Bürger« – und den habe die Krise besonders getroffen, ganz gleich, ob er jüdisch ist oder griechisch-orthodox.
Ganz anders äußert sich Moses Elisaf, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Ioannina. Ihn erfüllt das Ergebnis des Referendums mit Sorge. Weil es die Europäer für ihre Strenge bestrafen sollte, werde es die griechische Regierung bei den neuen Verhandlungen schwer haben. Aber man brauche ganz dringend eine Lösung. Deshalb appelliert Elisaf an die EU-Staaten, Griechenland doch bitte entgegenzukommen – in Solidarität und ohne Rache.
Umdenken Große Kritik übt Elisaf an der griechischen Bevölkerung. Sie habe noch nicht wirklich begriffen, in welchen Schwierigkeiten das Land steckt, und messe der europäischen Identität Griechenlands zu wenig Bedeutung bei. Auch nehme sie die europäische Solidarität, die durchaus vorhanden war, nicht gebührend wahr. Elisaf fordert ein radikales Umdenken: Griechenland müsse endlich die Verantwortung für die Krise übernehmen.
Ältere Juden in Thessaloniki sagen, es sei nicht verwunderlich, dass beim Referendum vor allem die junge Generation mit Nein gestimmt hat, denn sie sei von der hohen Arbeitslosigkeit am meisten betroffen. Viele junge Menschen hätten eine gute Ausbildung und fühlten sich jetzt um ihre Zukunft betrogen. Das ist der Nährboden für rechtsextremes Gedankengut. An etlichen Orten im Land ist ein antieuropäisches, nationalistisches Klima zu spüren, und hier und dort macht sich Fremdenfeindlichkeit breit.
Das Ergebnis des Referendums zeigt, dass es zurzeit keine politische Alternative zur Syriza-Regierung gibt. Griechenland hat keine glaubwürdige Opposition mehr, die mit den Fehlern der Vergangenheit nicht in Verbindung zu bringen wäre. Egal ob jüdisch oder nicht – viele Griechen sind jetzt erleichtert. Nicht nur über das Ergebnis des Referendums, sondern dass zumindest in diesem Punkt Klarheit herrscht.