Wer heute das Nationale Denkmal Westerbork im Norden der Niederlande besucht, fährt durch eine Landschaft mit Feldern und Wiesen, Bauernhöfen und Villen, Wäldern und schattigen Alleen. Das war 1939 anders, als auf einer öden Heide in der ländlichen Provinz Drente ein Erstauffanglager für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich errichtet wurde.
Die Kosten übernahm nicht der niederländische Staat, sondern die jüdische Gemeinschaft. Die Niederlande waren neutral, und die Regierung in Den Haag wollte Hitlerdeutschland nicht provozieren.
Doch am 10. Mai 1940 wurden die Niederlande von ihrem aggressiven Nachbarn überfallen. Die nationalsozialistischen Besatzer nutzten das Lager weiter. Alle deutschen und österreichischen Juden, die in die Niederlande geflohen waren, wurden in Westerbork interniert. Am 1. Juli 1942 wurde aus dem Flüchtlingslager das »Judendurchgangslager«, und zwei Wochen später, am 15. Juli, fuhr von hier aus der erste Zug aus den Niederlanden ins Vernichtungslager Auschwitz.
Bis zum 13. September 1944 folgten Dutzende weitere: jeden Dienstag ein voller Zug. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum rund 107.000 Juden deportiert, vor allem niederländische, aber auch Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Nur 5000 von ihnen kehrten nach 1945 zurück.
Pläne Seit 1983 ist Westerbork ein Erinnerungszentrum. Es entwickelt neue Pläne, um künftigen Generationen das Unverständliche der Schoa zu vermitteln. »Im Wesentlichen wird Westerbork bleiben, was es heute ist: ein Zentrum des Erinnerns«, erläutert Gedenkstättendirektor Dirk Mulder in seinem hellen, sonnigen Büro. »Wir müssen aber neue Formen entwickeln, damit wir die kommenden Generationen erreichen, denn Jugendliche sind sehr visuell orientiert: mehr sehen, weniger lesen. Darin liegt die große Herausforderung für uns: Wie macht man das Grauen anschaulich, ohne in Disneyisierung abzugleiten?«
Westerborks Geschichte ist sehr wechselvoll. Als Erstauffanglager für jüdische Flüchtlinge errichtet und ab 1942 bis zum Ende der Schoa von den deutschen Besatzern als »Durchgangslager« betrieben, wurde es bereits im Mai 1945 – die Niederlande waren seit zwei Wochen befreit – in anderer Funktion als Lager weitergenutzt: als Internierungslager für niederländische Kollaborateure und SS-Männer. Zuletzt, bis Anfang der 50er-Jahre, waren auf dem Gelände Flüchtlinge aus Niederländisch-Ostindien untergebracht: indische Niederländer und, nachdem das heutige Indonesien seine Unabhängigkeit erlangt hatte, Bewohner der kleinen Inselgruppe der Molukken.
»Das alles gehört mit zur Geschichte Westerborks, aber es ist nicht einfach, das zu vermitteln«, sagt Mulder. Es gebe Widerstände, zum Beispiel, als er eine Ausstellung über SS-Männer und Kollaborateure zusammenstellen wollte. »Da waren gerade die Kinder von Widerstandskämpfern die schärfsten Kritiker.«
Auschwitz Aber Mulder lässt sich nicht beirren. Er ist der festen Überzeugung, dass Westerbork nicht nur eine außerordentlich wichtige Funktion als Erinnerungszentrum hat, sondern auch für die Zukunft richtungsweisend sein sollte: als Kulturerneuerer, der gesellschaftlich neue Weichen stellt und eine zeitgenössische Auslegung gibt für den Leitspruch »Nie wieder Auschwitz«.
»So sind wir stark beteiligt am Erinnerungszentrum in Srebrenica.« Seit Februar geht in der bosnischen Stadt eine Dauerausstellung der Frage nach: Wie war der Massenmord an 8000 Bosniern, Männern und Jungen zwischen zwölf und 77 Jahren, möglich? Die Ausstellung lässt bewusst Opfer zu Wort kommen, aber auch Veteranen von Dutchbat, den niederländischen Soldaten, die die Enklave beschützen sollten.
Das ist die Essenz eines Erinnerungszentrums, meint Mulder: Man muss an die Beteiligten erinnern, vor allem an die Opfer, ihnen ein Gesicht geben. Das versuchen er und sein Team in Westerbork. »Von den 102.000 ermordeten Juden sowie den 245 Roma und Sinti haben wir bis auf etwa 1000 die Namen ermitteln können. Wir wissen, wer sie waren, wo sie gelebt haben, was sie beruflich gemacht haben und wo sie ums Leben kamen.«
Dabei hat in den 90er-Jahren die Digitalisierung verschiedener Archive geholfen, zum Beispiel das des Roten Kreuzes und des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation. Vorher sei das »Schwerstarbeit« gewesen, sagt Mulder.
Baracke Jetzt will der Gedenkstättenchef neue Wege gehen, einiges anschaulicher machen und den Fokus mehr auf Jüngere richten. Zurzeit wird das Lager teilweise rekonstruiert, damit sich Besucher – im vergangenen Jahr kamen rund 165.000 – eine bessere Vorstellung machen können. So wurde zum Beispiel das Wohnhaus des ehemaligen Lagerkommandanten mit Glas überdacht, um es vor Wettereinflüssen zu schützen.
Außerdem ist eine von mehr als 50 Baracken sichergestellt worden. Die letzte wurde 1971 abgerissen, eine weitere stand zum Teil noch bei einem Bauern im ostniederländischen Dorf Zelhem und wurde als Scheune benutzt. »Der Besitzer hat sie uns vor sieben Jahren geschenkt – besser gesagt: das, was davon übrig war. Jetzt wird sie rekonstruiert«, erläutert Mulder.
Zusammen mit den verbogenen Eisenbahnschienen des Nationalen Denkmals Westerbork, mit den 102.000 Steinchen auf dem ehemaligen Appellplatz – jeder Stein steht für einen ermordeten Mann, eine ermordete Frau, ein ermordetes Kind –, mit der Dauerausstellung und den wechselnden Präsentationen sollen die Baracke und das Wohnhaus des Lagerkommandanten vermitteln, was sich hier vor mehr als 70 Jahren abgespielt hat.