Nirgendwo habe ich mich so sicher gefüllt wie in dieser Wildnis», schrieb Melech Rawitsch 1933 in sein Tagebuch. Der polnisch-jüdische Schriftsteller war auf der Suche nach einem Refugium für die Juden Europas. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland war er an das andere Ende der Welt gereist: nach Australien. Im Norden des nahezu menschenleeren Kontinents, weit weg von Europa und somit ein sicherer Zufluchtsort, wollte er eine «jüdische Heimstatt» gründen.
Melech Rawitsch war ein Zeitgenosse und Freund des Schriftstellers und späteren Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer. Er kam 1893 als Sacharja Bergner im galizischen Schtetl Radymno zur Welt – einem Ort, wo die Männer noch Strejmel trugen, die Synagogen nicht nur am Schabbat gut besucht waren und die Jungen im Cheder eifrig Talmud und Tora lernten. Eine Welt von unbändiger Frömmigkeit, gepaart mit Armut und Not.
Nach dem Besuch der Grundschule verließ Sacharja im Alter von nur 14 Jahren Radymno. Es zog ihn hinaus in die Welt. Er nahm den Namen Melech Rawitsch an und begann, auf Jiddisch zu schreiben. Einer seiner ersten Texte erschien bereits 1910 in einer jiddisch-galizischen Zeitschrift.
Nach Aufenthalten in Lemberg und Wien leistete Rawitsch im Ersten Weltkrieg seinen Wehrdienst in der österreichischen Armee ab.
Wien Nach Aufenthalten in Lemberg und Wien leistete Rawitsch im Ersten Weltkrieg seinen Wehrdienst in der österreichischen Armee ab. Danach siedelte er nach Warschau über, damals eines der Zentren jiddischer Literatur. Hier lernte er andere jiddische Schriftsteller kennen, darunter Peretz Markisch, Uri Zvi Greenberg und Isaac Bashevis Singer.
In seinem autobiografischen Text Ein kleiner Junge auf der Suche nach Gott beschreibt der damals noch unbekannte Singer seinen elf Jahre älteren Kollegen: «Rawitsch glaubte mit absoluter Sicherheit daran, dass die Welt der Gerechtigkeit heute oder morgen kommen müsse.» Alle Menschen würden Brüder, es werde «keine Juden, keine Christen, nur eine einzige geeinte Menschheit geben», und die Literatur, so war Rawitsch überzeugt, würde das «Herannahen dieser freudigen Zeit beschleunigen». Singer, der kurze Zeit bei Melech Rawitsch als Schlafbursche wohnte, schätzte die Begabung und die Weltläufigkeit seines Mentors, «wunderte sich aber gleichzeitig über seine Naivität».
Mittlerweile hatte Rawitsch erste Gedichte und Texte in der jiddischen Zeitung «Di fir Sejtn fun majne Welt» veröffentlicht. Ab 1924 hatte er den Posten des Geschäftsführers des «Farejn fun Jidize Literatn un Tsurnalistn in Warszhe» übernommen. Neben dieser Verbandstätigkeit setzte Melech Rawitsch sich für den Auf- und Ausbau von Jiddisch-Schulen in Polen ein. Dafür reiste er quer durch das Land und besuchte «rund zweihundert Städte und Schtetl».
Dabei wurde ihm klar, dass die Juden nicht willkommen waren, obwohl sie doch schon seit Jahrhunderten dort lebten. «Wenn es nur möglich wäre, ein Stück Land auf diesem Planeten zu finden, für ein paar Millionen Juden, es gäbe kein ›Judenproblem‹ mehr auf der Welt», schrieb er hoffnungsvoll, «es würde dahinschmelzen wie Schnee im Frühling.»
alternative Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Antisemitismus in Polen bestärkten Rawitsch konkret darin, nach Alternativen für die jüdische Bevölkerung zu suchen. Mithilfe einiger wohlhabender jüdischer Kaufleute und Intellektueller machte er sich im Frühjahr 1933 auf die Reise in den nahezu unbewohnten Nordwesten des fünften Kontinents. «Mein Vater ist durch Russland und China nach Australien gefahren, er wollte in die Kimberley fahren», berichtet sein Sohn Jossl Bergner in einem Interview für das «Oral History»-Projekt des Yiddish Book Center.
Nach der Machtübernahme der Nazis suchte Rawitsch nach Alternativen für die jüdische Bevölkerung.
Die Kimberley, eine entlegene und schwer zugängliche Region, wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Europäern besiedelt. In der Regenzeit zwischen Oktober und März herrscht dort tropisches Monsunklima mit feucht-heißen Temperaturen über 40 Grad; in der Trockenzeit sinken die Temperaturen auf 25 bis 30 Grad. Heute leben auf den rund 420.000 Quadratkilometern etwa 40.000 Menschen. Neben dem Bergbau ist die Rinderzucht ein wichtiger Wirtschaftszweig. Mit dem nationalen Highway One gibt es nur eine geteerte Straße durch die Region.
Nachdem Melech Rawitsch in Melbourne, Sydney und Brisbane Vorträge gehalten und um Spendengelder für die jiddischen Schulen in Polen geworben hatte – ein Teil seines offiziellen Auftrags –, fuhr er mit der Eisenbahn vom südaustralischen Adelaide ins über 1500 Kilometer entfernte Alice Springs im Northern Territory. Von dort begann die «wilde Reise durch das wilde Land», notierte Rawitsch.
«Es war ein langer Weg, es gab keine richtigen Straßen», erzählt Jossl Bergner und zeigt auf die alten Fotos seines Vaters. «Er reiste mit einem Lastwagen, einem italienischen Fahrer und einem jungen Aborigine als Guide. Und sie fuhren, fuhren und fuhren. Auf dem Weg sah er ein großes Gebäude mit einem Davidstern auf dem Dach, es sah zumindest so aus wie ein Davidstern. Und er rief: ›Seht, der Aufbau des jüdischen Staates hat bereits begonnen.‹ Doch es war kein Davidstern», berichtet der Sohn lächelnd. «Der Tate konnte seine Reise auch nicht ganz zu Ende bringen, bis in die Kimberley kam er nicht, er hatte kein Geld mehr.»
Karikatur Rawitsch dokumentierte seine Reise, die ihn nur bis in die nordaustralische Küstenstadt Darwin führte, fotografisch mit seiner Kodak-Kamera und in einem längeren Bericht für den in Melbourne in jiddischer Sprache erscheinenden «Auistralisz-Jidiszer Almanach».
Nach seiner Ansicht biete das «Northern Territory hervorragende Möglichkeiten zur Ansiedlung von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland», da auch die australische Verwaltung des Territory der Meinung sei, dass die «vorhandenen Ressourcen hinsichtlich Bodenschätzen, Weide- und Ackerflächen zur Ansiedlung von etwa einer Million Menschen ausreichen» würden.
Rawitsch dokumentierte seine Reise, die ihn nur bis in die nordaustralische Küstenstadt Darwin führte, fotografisch mit seiner Kodak-Kamera.
Obwohl Rawitsch mit Genehmigung der australischen Regierung seine Erkundungsreise angetreten hatte, war ihm bewusst, dass die Politik strikt auf eine britische und weiße Einwanderung setzte. Zudem gab es in der Bevölkerung starke Vorbehalte gegen Juden. Die Zeitung «The Bulletin» etwa kommentierte die Entdeckungsreise des polnisch-jüdischen Schriftstellers mit einer antisemitischen Karikatur.
Sydney Unter der Überschrift «Wichtige australische Bürger sichern ihre Unterstützung für die geplante Gründung einer jüdischen Kolonie in Kimberley zu» präsentierte man einen Aborigine, der von einem jüdischen Händler namens Isaacson einen Speer angeboten bekommt. «You couldn’t get a petter spear for der money in Sydney», sagt der mit Hakennase gezeichnete Jude mit schwerem deutschem Akzent.
In einem Interview mit der in Brisbane verlegten Zeitung «Courier Mail» warb Rawitsch nochmals eindringlich für seine Idee. Die beobachtete «Vitalität und Gesundheit der Menschen, die bereits jetzt im Nordwesten leben», hatten ihn überzeugt, dass «die klimatischen Verhältnisse kein ernsthaftes Hindernis für eine erfolgreiche Ansiedlung» wären. «Die Juden sind ein Volk mit starker Lebenskraft und Kreativität, die sie als produktive Siedler im tropischen Australien prädestinieren», unterstrich Rawitsch seine Ausführungen. Zudem spreche die «White Australia Policy», die Prämisse, die Einwanderung von Nichtweißen zu verhindern, für die Ansiedlung von Juden im Northern Territory.
«Tweed Daily» Doch «das Glück stand ihm nicht zur Seite», berichtete der «Tweed Daily». Die australische Regierung wollte sein Vorhaben nicht unterstützen. Die Arbeitslosigkeit im Land, internationale Verpflichtungen und die guten Beziehungen zu Großbritannien sprächen dagegen, «die Türen im Norden für die Einwanderung von jüdischen Flüchtlingen sperrangelweit zu öffnen», vermeldete das Blatt.
Kritiker befürchteten die Beschädigung der zionistischen Idee – und nahmen Abstand von Rawitsch.
Trotz des Rückschlags ließ sich Rawitsch für einige Jahre in Melbourne nieder, bevor er über Buenos Aires und New York 1941 nach Montreal übersiedelte. Die kanadische Stadt wurde seine neue Heimat und entwickelte sich durch seine schriftstellerische Arbeit zu einem Zentrum der jiddischen Literatur. Doch die Idee von einer jüdischen Ansiedlung auf dem westaustralischen Kimberley-Plateau lebte weiter.
politiker Issac N. Steinberg, ein ehemaliger Minister der russischen Revolutionsregierung unter Lenin, reiste 1939 nach Australien und sprach beim damaligen Premierminister von Westaustralien, John Collings Willcock, vor. Der Politiker signalisierte vorsichtig seine Zustimmung für das Projekt, unter der Bedingung, dass die Juden «das jüdische Siedlungsgebiet garantiert nicht verlassen, es erschließen und nicht in die Städte weiterziehen».
Doch Steinberg gelang es nicht, weitere prominente Fürsprecher für das Projekt zu gewinnen. Auch die jüdischen Gemeinden in Melbourne und Sydney standen dem Siedlungsvorhaben kritisch gegenüber. Man befürchtete eine Zunahme des Antisemitismus und eine Beschädigung der zionistischen Idee, die von der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina ausging.
So blieb das geplante «alternative Zion» im australischen Kimberley eine Fantasie zweier osteuropäischer Juden: eines polnischen Literaten und eines russischen Politikers.