Tschechien

Erbe verpflichtet

Die Schlagzeilen mit dem Kopfsteinpflaster bringen František Bányai nicht aus der Ruhe. »Ach, das ist doch eine uralte Geschichte«, sagt er und winkt ab. »Das Thema taucht alle paar Jahre wieder auf – aber es sieht so aus, als wären wir jetzt einen großen Schritt weitergekommen.«

Bányai sitzt in seinem Vorsitzendenbüro im jüdischen Rathaus von Prag, jenem altehrwürdigen Gebäude, in dem schon seit vielen Generationen die Fäden des jüdischen Lebens in Böhmen und Mähren zusammenlaufen, und lehnt sich in dem antiken Stuhl zurück, der am Besprechungstisch steht. Klar, er hat die Schlagzeilen alle gelesen, sie waren in Medien aus aller Welt: Auf dem Wenzelsplatz in Prag, so stand dort zu lesen, seien in kommunistischer Zeit zerstörte jüdische Grabsteine als Straßenpflaster verwendet worden.

Management 72 Jahre alt ist František Bányai, er hat einen weißen Bart und trägt einen weinroten Pullunder. Wohlhabend geworden ist er mit seiner eigenen IT-Firma, und jetzt im Ruhestand kümmert er sich um die jüdische Gemeinde in Prag.

»Ich sehe das vor allem als eine Managementaufgabe – mir geht es darum, dass die Gemeinde vernünftig funktioniert«, sagt er. Im Jahr 2004 wurde er zum ersten Mal Vorsitzender. Eigentlich hatte er das Amt schon 2012 an seinen Nachfolger Jan Munk abgegeben, aber nach dessen Tod ist er seit einigen Monaten wieder zurückgekehrt in das Büro hier im zweiten Stock des jüdischen Rathauses.

Die großen Herausforderungen der Gemeinde, das ist aus diesem Lebenslauf ersichtlich, kennt er in- und auswendig: »Wir haben 170 Friedhöfe und 30 Synagogen innerhalb und außerhalb Prags, viele von ihnen dringend renovierungsbedürftig«, zählt er auf. »Das ist Arbeit genug für die nächsten 20, 30 Jahre – mindestens!«

Das, sagt František Bányai, müsse man wissen, bevor man sich mit dem Kopfsteinpflaster am Wenzelsplatz beschäftigt.

Viele Synagogen und Friedhöfe sind dringend renovierungsbedürftig.

»Es gibt Indizien dafür, dass die Steine von einem alten jüdischen Friedhof zerschnitten und dort in der Fußgängerzone verlegt wurden. Aber niemand weiß, ob sie wirklich noch da sind und um wie viele es eigentlich geht«, erläutert er.

Derzeit bereitet die Stadt ein Memorandum vor. Kurz gesagt, wird darin festgelegt: Wann immer jemand am Wenzelsplatz und der angrenzenden Einkaufsstraße Na Prikope Tiefbauarbeiten plant, wird die erforderliche Genehmigung dafür nur unter der Bedingung erteilt, dass die Steine von Experten begutachtet werden.

In absehbarer Zeit soll zum Beispiel die Straßenbahn wieder längs über den Wenzelsplatz fahren, so wie es früher gewesen ist – bei diesen Arbeiten dürfte sich zeigen, was es mit den alten Grabsteinen auf sich hat und ob sie dort tatsächlich zu finden sind.

»Es kann sein, dass man entweder gar nichts findet, weil die Steine früher schon einmal aussortiert wurden, oder dass man tatsächlich welche findet, die aber in Beton gegossen wurden und mit denen man deshalb nichts mehr anfangen kann«, skizziert Bányai zwei der vielen denkbaren Szenarien.

»Es gibt aber viel schlimmere Fälle in Prag«, sagt er dann: »Wussten Sie zum Beispiel, dass man in Prag auf einem alten Friedhof heute Minigolf spielen kann?«. Er spielt auf den Fernsehturm im zentralen Stadtviertel Zizkov an. Der wurde in den 80er-Jahren gebaut, und als Baugrundstück wählten die Planungsbehörden jener Zeit ausgerechnet einen alten jüdischen Friedhof aus; der letzte unbebaute Fleck weit und breit. Der Friedhof wurde dem Erdboden gleichgemacht. Im kleinen Park, der nach den Bauarbeiten rings um den mächtigen Turm entstand, betreibt eine private Firma heute ein nobles Biergarten-Restaurant und hat eine Minigolf-Anlage aufgebaut; im Winter gibt es zusätzlich eine Eislaufbahn.

Budget Was soll man mit solchen Fällen machen? Für František Bányai ist die Antwort nicht leicht, aber genau an diesem Punkt kommt er zurück auf die 170 Friedhöfe und 30 Synagogen, die baufällig sind: Lieber, sagt er, sollte man sich um sie kümmern, weil man sie noch retten kann. Und nicht das ohnehin viel zu knappe Budget für »Kämpfe mit Windmühlen« ausgeben, wie er es nennt. »Wenn man aus einem Steak Hackfleisch macht«, sagt er, »dann wird da nie wieder ein Steak daraus. Wir wollen uns auf das konzentrieren, was im Bereich unserer Möglichkeiten liegt.«

Für ihn heißt dieser pragmatische Ansatz nicht zuletzt, einen genauen Finanzplan aufzustellen. »Wir gehen so vor, dass wir dort investieren, wo jemand mithilft. Zu jeder Krone an Fördermitteln geben wir eine Krone aus eigenen Töpfen dazu. Bei uns im Gemeindebudget haben wir da pro Jahr sieben bis acht Millionen Kronen vorgesehen«, sagt er – das sind umgerechnet etwa 300.000 Euro. Die Schwierigkeit: Alle Denkmäler, die sich nicht im unmittelbaren Zentrum Prags befinden und damit direkt an den Touristenströmen, hätten es sehr schwer, ihren eigenen Unterhalt durch Eintrittsgelder und andere Einnahmen zu finanzieren. »Was die Einnahmen betrifft, haben wir die Decke erreicht.«

Überlebende Geld wird nicht nur für die Denkmäler benötigt: Einer der Schwerpunkte der Prager Gemeinde liegt in der Unterstützung der Schoa-Überlebenden. Vor gut einem Jahrzehnt entstand am Rande der Stadt die Anlage »Hagibor« – ein Pflege- und Altenheim, das gezielt auf diese Gruppe ausgerichtet wurde. Das Heim ist stark gefragt.

Zugleich kümmert sich die Gemeinde verstärkt um die zweite Generation. »Die Übertragung des Traumas ist schließlich bewiesen«, sagt František Bányai. Hinzu kommen Projekte etwa im Bereich von Mietwohnungen für sozial schwache Gemeindemitglieder. »Im Bereich des Sozialen ist es so wie im Bereich der Denkmalpflege: Wir müssen gut auswählen, wo wir etwas bewirken können – nur: Bei den Denkmälern drängt die Zeit nicht so.«

Ein Pflege- und Altenheim für Schoa-Überlebende ist stark gefragt.

Was den Nachwuchs angeht, ist Bányai optimistisch. »Wir haben 350 Schüler auf unserer Schule. Ich behaupte nicht, dass die alle später auch aktive Gemeindemitglieder werden – aber der große Vorteil ist: Für sie ist die Gemeinde nichts Fremdes mehr, sie können jederzeit kommen.«

Er spielt auf die Zeit des Kommunismus an, als viele Kinder erst im fortgeschrittenen Alter erfuhren, dass die Familie jüdische Wurzeln hat – aus Angst vor Repressalien verschwieg man sie lieber.

František Bányai selbst ist in einer Familie aufgewachsen, in der das Judentum keine große Rolle spielte, und noch heute, sagt er, habe er nur selten das Bedürfnis, in die Synagoge zu gehen.

Lied Dann fügt er einen Satz hinzu, der zeigt, wie sehr sich das jüdische Leben in Tschechien in den vergangenen Jahren verändert hat: »Ich sehe das an meiner Enkelin. Wir sind neulich irgendwo hingeflogen, und auf einmal hat meine kleine Enkelin angefangen, dort im Flugzeug ein hebräisches Lied zu singen, ein jüdisches Gebet. Mir kam das erst ganz fremd vor, und es zeigt: Die Gemeinde ist etwas ganz Natürliches – etwas, wovor die jungen Leute keine Angst mehr haben müssen, so wie es bei uns war bis 1989. Der Abstand zur Gemeinde, der existiert nicht mehr.«

Das Jüdische ist wieder selbstverständlich geworden – eine Entwicklung, auf die die Juden in Prag und in Tschechien viele Jahrzehnte lang sehnsüchtig gewartet haben.

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