Im Krieg sind alle gleich. Egal ob gesichtslose Retortenstadt oder sinnstiftender Monumentalbau – sie alle werden zu Schlachtfeldern, ihre steinernen Mauern zur Deckung, ihre bunt verglasten Fenster zu Schießscharten. Bemühen sich Völkerrechtler seit Jahrhunderten, Regeln für den angemessenen Umgang mit Feind und Zivilbevölkerung zu finden, muss die Weltgemeinschaft viel zu oft untätig zusehen, wenn die Schätze der Vergangenheit zu Kollateralschäden werden.
Laut den jüngsten Berichten der Weltkulturorganisation UNESCO könnte auch die berühmte Altstadt von Aleppo Opfer der Kämpfe werden. Neben zahlreichen Bauwerken der Römer und Umayyaden finden sich dort nahezu alle Überreste jüdischen Lebens in der geschichtsträchtigen syrischen Metropole. UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa warnte besonders vor Plünderungen: »Damit die internationale Gemeinschaft das kulturelle Erbe Syriens wirksam schützen kann, haben wir Interpol eingeschaltet, um auf die Gefahr von Antikenschmuggel zu reagieren«, so Bokowa.
aleppo-codex Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war Aleppo eines der geistigen Zentren des sefardischen Judentums. Mehr als fünf Jahrhunderte hütete die Gemeinde der bis heute im alten Stadtkern gelegenen al-Bandara-Synagoge den sogenannten Aleppo-Codex. Er ist das älteste erhaltene Bibelmanuskript und eine der wichtigsten Quellen jüdischer Lehre. Das wenige Hundert Seiten umfassende Schriftstück steht wie kein anderes für das tragische Schicksal dieser jüdischen Gemeinde.
Im Status der Dhimmi, andersgläubiger Bürger zweiter Klasse, lebten die Juden Aleppos unter wechselnden Eroberern weitgehend unbehelligt. Viele verfügten als einfache Handwerker und Händler über eine vernehmbare Stimme im Straßengewirr der Souks, besonders das osmanische Millet-System stärkte die Eigenständigkeit der zahlreichen Gemeinden der Stadt.
Dieser ohnehin brüchige Bund zerbrach am Vorabend der israelischen Staatsgründung vollends, als im Dezember 1947 fast 100 jüdische Bürger bei einem Pogrom ermordet wurden. In den Flammen der angezündeten Synagogen verbrannten nach Überlieferung der Gemeinde auch zahlreiche Seiten des Aleppo-Codex, der 1958 schließlich nach Jerusalem überführt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein Großteil der einst 10.000 Personen starken jüdischen Gemeinschaft ausgewandert.
vertreibung Vor Ausbruch des Bürgerkriegs im vergangenen Jahr lebten nach Angaben von Ezra Kassin, Direktor des Verbands Aleppiner Juden in Israel, zu keinem Zeitpunkt mehr als 40 Juden in Aleppo, die meisten von ihnen waren zudem nur zu Besuch. »Es war die Politik Hafez al-Assads, die jüdische Gemeinde in Syrien als Geisel gegen den Staat Israel zu nutzen. Dies hat uns letztendlich vertrieben«, erklärt Kassin.
Obwohl er in Jerusalem geboren wurde, fühle er sich als syrischer Jude. Schließlich hätten Juden bereits um das Jahr 1000 v.d.Z. erste religiöse Stätten in Aleppo errichtet, die islamische Eroberung rund 1.600 Jahre später bedeutete nur eine weitere Fremdherrschaft. »Aber eigentlich ist es uns nicht wichtig, unter welcher Regierung wir leben, solange wir unsere Kultur und Bräuche leben können.«
Syriens Präsident Baschar al-Assad genießt dabei in den Exilgemeinschaften, besonders in Jerusalem und in Brooklyn, ein ungewöhnlich hohes Ansehen. »Im Gegensatz zu seinem Vater hat er unsere Gruppe als Werkzeug verstanden, um die politischen Beziehungen nach Europa und Nordamerika zu verbessern«, merkt Ezra Kassin an. Assad junior investierte Millionensummen in die Restaurierung der Altstadt Aleppos, auch mehrere Synagogen profitierten davon. »Er war am Schicksal unserer Gemeinden immer interessiert und lud uns mehrfach nach Damaskus ein. Auch wenn es eine Diktatur ist, kamen wir mit ihr doch gut zurecht.«
volksaufstand Welche Auswirkungen der Volksaufstand auf diese Kooperation haben könnte, mag sich Kassin nicht ausmalen. Alles sei möglich, sagt er. Noch sehr präsent sind die Bilder aus Kairo im vergangenen Jahr, als ein wütender Mob die israelische Botschaft stürmte, um gegen den Friedensvertrag mit Israel zu demonstrieren. Gegenwärtig seien die Einrichtungen der jüdischen Gemeinde im historischen Stadtkern »verriegelt und verrammelt«, sagt Kassin, bewachen würde sie aber vor Ort niemand. »Wir wissen auch nicht, ob alle Gebäude noch intakt sind. Zuverlässige Informationen zu erhalten, ist nahezu unmöglich.«
Sorgenvoll stimmt, dass die Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) den Kampf um das Viertel Salaheddin in der vergangenen Woche aufgeben mussten. Die meisten von ihnen errichteten weiter südlich nahe der Sukari-Nachbarschaft neue Stellungen. Einige Einheiten zogen dem jedoch die engen Gassen der Altstadt vor, die den Einsatz von Panzern unmöglich machen. Von dort aus nahmen sie am Wochenende mehrfach die Zitadelle der Stadt unter Beschuss, wo sich Scharfschützen der Regierung verschanzt haben.
Zerstörung Bislang ist der großflächige Artilleriebeschuss der Altstadt glücklicherweise ausgeblieben. Die Zahl der zerstörten Kulturschätze ist noch überschaubar – Gebäude des orthodoxen Patriarchats und ein Badehaus aus dem 17. Jahrhundert sollen durch Kampfflugzeuge der syrischen Armee zerstört worden sein. Doch auch die Rebellen verfügen inzwischen nach Angaben der Vereinten Nationen über schwere Waffen.
Noch profitiert die al-Bandara-Synagoge davon, dass das alte jüdische Viertel auf der weniger stark umkämpften Nordseite der Zitadelle liegt. Dass es lange so bleibt, ist unwahrscheinlich. Nach Angaben von Anwohnern entwickelt sich insbesondere das von der FSA kontrollierte al-Nasr-Tor zur jüdischen Altstadt zu einem strategischen Knotenpunkt. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis auch erste Häuser des Viertels unter Beschuss geraten. Nach wenigen Jahren der Hoffnung blicken die Juden aus Aleppo wieder in eine ungewisse Zukunft.