Die Welt sieht radikal anders aus als vor vier Jahren», beginnt der aktuelle Newsletter des niederländischen Israel-Informations- und Dokumentationszentrums CIDI. «Sektierertum, Separatismus, Rückzug in die eigene Gruppe, wachsender Nationalismus, islamischer Fundamentalismus, immer näher kommender Terror (...) und natürlich eine wachsende Welle an Flüchtlingen. All diese Erscheinungen haben in kurzer Zeit die politische Landkarte durchgeschüttelt.»
In dieser Situation steht den Niederlanden am 15. März die Wahl eines neuen Parlaments bevor – als erstem EU-Mitgliedsstaat in diesem womöglich wegweisenden Jahr für die Zukunft des Kontinents. Die internationale Aufmerksamkeit war noch nie so groß – was nicht zuletzt daran liegt, dass die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders wenige Wochen vor der Wahl in den Umfragen führt, Kopf an Kopf mit der liberalen Partei VVD von Premierminister Mark Rutte.
Sorgen «Verwirrung und Sorgen» konstatiert das CIDI in der Bevölkerung. Gleiches gilt zweifellos auch für die jüdische Bevölkerung. «Die jüdische Stimme», wie es manchmal publizistisch vereinfachend heißt, gibt es jedoch nicht. Einer, der das wissen muss, ist Michiel Cornelissen, Inhaber des bekannten koscheren Feinkostgeschäfts «Mouwes» in Amstelveen. «Meine Kundschaft ist sehr divers – sie reicht von der VVD über die PVV bis hin zu GrünLinks.» Seine private Vorliebe behält Cornelissen für sich.
Der aktuelle CIDI-Newsletter möchte eine Orientierungshilfe für jüdische Wähler sein. Er untersucht die Wahlprogramme hinsichtlich der Positionen zu Israel und dem Nahostkonflikt, den Interessen der jüdischen Gemeinschaft sowie der Bekämpfung des Antisemitismus.
Das Ergebnis ist deutlich: Tendenziell bekennen sich rechte Parteien eher zu Israel, während linke vielfach die Anerkennung Palästinas fordern. Beinahe durch die Bank gibt es Aufmerksamkeit für den Kampf gegen Antisemitismus, wobei er oft in Zusammenhang mit anderen Formen von Diskriminierung erwähnt wird.
Für manche, deren Wahlentscheidung maßgeblich von diesen Aspekten bestimmt wird, dürften die kleinen protestantischen Parteien infrage kommen: die progressive ChristenUnie (CU) und die sehr konservative Staatkundig Gereformeerde Partij (SGP).
israel Beide fordern von der Regierung in Den Haag, sich deutlich pro Israel zu positionieren, und betonen, dass die Anerkennung des jüdischen Staates essenzielle Bedingung für einen Frieden in Nahost ist. Zugleich sprechen sie sich für ein entschlossenes Vorgehen gegen Antisemitismus aus und heben hervor, dass der Holocaust im Schulunterricht thematisiert werden muss – was an stark muslimisch geprägten Schulen in den Niederlanden nicht selbstverständlich ist.
Einer, der für diese Parteien durchaus Sympathie empfindet, ist Oberrabbiner Binyomin Jacobs. «Es ist klar, dass hinter dem Antizionismus Antisemitismus steckt. Gerade aus dieser Einsicht neigen viele niederländische Juden zu SGP und CU.» Bei der Stimmabgabe aber «ist das natürlich nicht besonders effektiv, denn diese Parteien sind zu klein». Ende Februar lag die CU in Umfragen bei sechs, die SGP bei vier der 150 Parlamentssitze. Zum Vergleich: VVD und PVV bekommen laut Umfragen 25 beziehungsweise 26 Sitze.
Polarisierung «Große Sorgen» macht sich Jacobs, in den Niederlanden seit Jahren ein Mahner für Verständigung und sozialen Zusammenhalt, über den Zustand der Gesellschaft. Durch die wachsende Polarisierung sieht er deren Basis gefährdet. «Zu Zeiten der deutschen Besatzung gab es ein kleines Grüppchen, das kollaborierte, und ein kleines Grüppchen, das Widerstand leistete. Die Frage ist: Wohin geht die Masse, die Mitte? Deren Richtung wird durch kleine Gruppen geprägt, und das kann sich konstant verändern. Die Gesellschaft schwankt – da wundert es mich nicht, wenn auch viele Juden schwanken.» In Grundzügen, so Jacobs, gleichen die Präferenzen denen amerikanischer Juden: «Orthodoxe waren eher für Trump, Liberale eher gegen ihn.»
Wenn ein niederländischer Politiker mit Donald Trump vergleichbar ist, ja selbst in positiver Weise beständig auf den neuen US-Präsidenten Bezug nimmt, dann ist das Geert Wilders. Der umstrittene Chef der PVV gilt vor allem international als Muslimhasser. Er wurde zuletzt wegen des Aufrufs zur Diskriminierung verurteilt, weil er im März 2014 seine Anhänger auf einer Wahlparty in Den Haag dazu angestachelt hatte, «Weniger Marokkaner» zu skandieren.
Warnung Wilders ist zugleich auch bekannt für seine – in drastischen Worten vorgetragene – Warnung vor dem politischen Islam und für sein klares Bekenntnis zu Israel. Trotzdem ist er in manchen jüdischen Kreisen verrufen: Viele halten ihn für gefährlich und empfinden ihn als eine Zumutung. Andere jüdische Wähler hingegen werden am 15. März für ihn stimmen.
Der Amsterdamer Nathan Bouscher, der die letzten Male PVV gewählt hat, begründet seine Entscheidung folgendermaßen: «In einem Jahrhundert, in dem der islamische Extremismus weltweit eine Blüte erlebt und jüdische Gemeinschaften mehr und mehr bedroht werden, finden Politiker, die auf diese Gefahr hinweisen, bei Juden Gehör. Dass Wilders und seine Partei daneben aufrichtig pro-israelisch sind, ist gut in einer Zeit, in der in linken Kreisen BDS und Israel-Bashing populär sind.» Bouscher, der inzwischen selbst für die Libertäre Partei (LP) kandidiert, hat trotz veränderter Präferenz «noch immer Sympathie für viele PVV-Standpunkte», darunter die Kritik an Einwanderung, EU und den etablierten Parteien.
Auch der jüdische Kandidat mit dem höchsten Listenplatz findet sich in Wilders’ PVV. Mit Platz vier ist dem Unternehmer Gidi Markuszower der Einzug in die Zweite Kammer des Parlaments so gut wie sicher. Trotz wochenlanger Bemühungen war ein Kommentar Markuszowers nicht zu bekommen. Der Kandidat selbst verwies die Jüdische Allgemeine per E-Mail an die Pressestelle der Partei. Dort blieb das Anliegen trotz wiederholten Nachfragens unbeantwortet liegen. Medienarbeit war noch nie eine Stärke der PVV.