Ukraine

Entdeckung des Erinnerns

Vor 70 Jahren ermordeten Wehrmacht und SS die Juden auf der Krim. Jetzt entstehen erste Gedenkorte

von Clemens Hoffmann  05.12.2011 17:12 Uhr

An der Marmorstele: Viktoria Plotkina Foto: Clemens Hoffmann

Vor 70 Jahren ermordeten Wehrmacht und SS die Juden auf der Krim. Jetzt entstehen erste Gedenkorte

von Clemens Hoffmann  05.12.2011 17:12 Uhr

Ein scharfer Wind peitscht tief hängende Wolken über die zur Ukraine gehörende Schwarzmeerhalbinsel Krim. Zehn Kilometer hinter Simferopol reißt Sergeij das Steuer seines Lada nach links. Rasselnd kommt der Wagen im Schotter zu stehen. Nassglänzende Sträucher, dazwischen ein Plattenweg, der zu einem Stoppelfeld führt.

Massenerschiessung Vor 70 Jahren, am 9. Dezember 1941, legt eine Karawane von Lastautos und Bussen den gleichen Weg zurück. Es ist der Auftakt zu einer der größten Massenerschießungen während des Zweiten Weltkriegs. Wenige Tage zuvor, am 14. November, hat die Wehrmacht die Krim-Hauptstadt Simferopol erreicht. Dort leben zu diesem Zeitpunkt rund 13.000 Juden und etwa 1.500 Krimtschaken, eine turksprachige jüdische Minderheit. Ursprünglich will die deutsche Militärverwaltung die Juden erst im Frühjahr 1942 umbringen. Doch weil die 11. Armee eine Hungersnot fürchtet und Wohnungen fehlen, verständigen sich Wehrmacht und SS, »die Judenaktion noch vor Weihnachten« abzuschließen.

Ein von der Roten Armee angelegter Panzergraben vor den Toren der Stadt wird als Exekutionsstätte ausgesucht. Die Juden müssen sich am Hauptsitz der Kommunistischen Partei einfinden. »Man hatte ihnen erzählt, sie würden umgesiedelt. Sie sollten nur leichtes Gepäck mitnehmen. Viele trugen ihre besten Kleider«, weiß Viktoria Plotkina, Direktorin des jüdischen Wohlfahrtszentrums »Hesed Shimon«, die sich eingehend mit der Geschichte der Gräueltaten beschäftigt hat.

Wachposten Kurz vor dem Panzergraben werden die Menschen durch ein Spalier von Wachposten getrieben. Sie müssen Schuhe und Mäntel ausziehen. Männer, Frauen und Kinder werden getrennt. Mit Peitschen und Eisenstangen schlagen die Posten auf die frierenden Menschen ein. Die Feldgendarmerie steht mit Schäferhunden daneben. Wer zu fliehen versucht oder Widerstand leistet, wird noch im Spalier getötet.

Dann eröffnen Erschießungskommandos am Graben das Feuer. Jüdische Zwangsarbeiter müssen die Leichen im Graben stapeln, um Platz für weitere Opfer zu schaffen. Vom 9. bis 13. Dezember werden mindestens 14.000 Menschen ermordet und verscharrt. Die Gräueltaten beschränken sich nicht nur auf Simferopol. Überall auf der Krim werden Juden aufgespürt und erschossen. Am 16. April 1942 meldet die SS nach Berlin: »Die Krim ist judenrein.«

Seit 2002 erinnern eine schlichte Stele und eine Menora aus schwarzem Marmor an die Toten. Die jüdische Gemeinde hat die Gedenkzeichen nach der Unabhängigkeit des Landes aufstellen lassen. Bis dahin erinnerte nur ein grauer Marmorobelisk an die »sowjetischen Bürger«, die hier von deutschen Faschisten erschossen wurden – eine Formulierung, die dem sowjetischen Erinnerungsmythos vom Großen Vaterländischen Krieg entsprach.

»Die Einzigartigkeit der Judenverfolgung wurde nivelliert und schließlich aufgelöst«, analysiert der Historiker Michail Tyaglyy. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kiewer Zentrum für Holocauststudien und hat im Auftrag von Yad Vashem in den vergangenen Jahren über 60 Stätten der Judenvernichtung auf der Krim besucht und dokumentiert. Sein Ergebnis: Nur an der Hälfte dieser Orte fand er Erinnerungszeichen.

Spenden Viktoria Plotkina betont, dass die Gemeinde die Mittel für die Gedenkstätte selbst aufgebracht hat: »Mehr als 2.000 Menschen haben Geld gespendet. Manche nur Kleinstbeträge, andere größere Summen. Damit zeigen wir, dass wir weiterleben, dass es uns gibt.« Inzwischen liegt auch ein »Buch der Erinnerung« mit den Namen der meisten Opfer vor.

Vor einigen Jahren wurde das Massengrab mit Beton versiegelt. Weiße Pfosten sollen Plünderer abschrecken: »Nicht graben!« steht in kyrillischer Schrift darauf. Bisher sei der Gedenkort von Vandalismus verschont geblieben, wohl auch, weil seine genaue Lage nur wenigen bekannt ist, vermutet Plotkina.

Seit einigen Jahren ist der 11. Dezember auf der Krim offizieller Gedenktag für die ermordeten Juden und Krimtschaken. Meistens kämen außer den Juden allerdings nur ein paar Offizielle zu den Trauerfeiern, bedauert Plotkina. Und im Unterricht werde das Thema nur von ein paar engagierten Lehrern angesprochen.

Für Michail Tyaglyy ist das auch eine Folge ungelöster Konflikte um das Geschichtsbild seines jungen Heimatlandes. In der Gesellschaft gebe es noch keinen Konsens darüber, wie die Vergangenheit zu interpretieren sei. »Die Mehrheit nimmt den Holocaust vor allem als Teil der jüdischen, nicht der ukrainischen Geschichte wahr.«

Polen

Duda würde Netanjahu nicht verhaften lassen

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal. Kommt der israelische Ministerpräsident trotz eines Haftbefehls gegen ihn?

 09.01.2025

Kalifornien

Synagoge fällt Feuern von Los Angeles zum Opfer

Die riesigen Brände gefährden auch jüdische Einrichtungen

 08.01.2025

USA

Welcome to Jiddishland

Nirgendwo sprechen so viele Menschen Jiddisch wie in New York. Und es werden immer mehr. Die Mameloschen hat die Grenzen der chassidischen Communitys längst überschritten

von Jörn Pissowotzki  08.01.2025

Social Media

Elon Musk hetzt wieder gegen George Soros

Der Berater des designierten US-Präsidenten Donald Trump bedient sich dabei erneut der Figur des Magneto aus dem Marvel-Universum

von Ralf Balke  08.01.2025

Interview

»Die FPÖ gilt als Prototyp des Rechtspopulismus«

Demokratieforscher Simon Franzmann über den Rechtsruck in Österreich

von Michael Grau und Daniel Behrendt  08.01.2025

Meinung

Der Neofaschist Herbert Kickl ist eine Gefahr für Österreich

In der FPÖ jagt ein antisemitischer »Einzelfall« den anderen, ihr Obmann will die liberale Demokratie abschaffen und könnte schon bald Kanzler sein

von Bini Guttmann  08.01.2025

Universität

Preise der »World Union of Jewish Students« in Berlin vergeben

Die weltweite Vertretung jüdischer Studierender hat ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert und besonders verdienstvolle Personen und Verbände ausgezeichnet

 07.01.2025

Islamismus

Paris gedenkt Anschlag auf »Charlie Hebdo«

Vor zehn Jahren starben bei Anschlägen auf die Zeitschrift »Charlie Hebdo« und einen koscheren Supermarkt in Paris 17 Menschen

von Michael Evers  07.01.2025

Japan

Israelis von japanischem Berg gerettet

Wegen der Wetterbedingungen war es für die Helfer extrem schwierig, die Männer zu retten

 07.01.2025