Barbara Engelking, Polens renommierte Holocaust-Forscherin, war schockiert, als sie auf dem Twitter-Account des polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki las, dass das, was sie in einem Fernsehinterview zum 80. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes von 1943 gesagt hatte, »skandalös« und »pseudohistorisch« sei.
Engelking hatte im regierungskritischen Fernsehsender TVN24 über ihre jahrzehntelangen Forschungen berichtet. Sie hatte die Wechselausstellung Um uns herum ein Flammenmeer für das Jüdische Museum Polin erstellt. In dem Interview erwähnte sie, dass die über drei Millionen Juden, die seit Jahrhunderten in Polen lebten, während der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 auf Hilfe, Freundschaft oder zumindest Neutralität ihrer katholisch-polnischen Nachbarn gehofft hatten.
verrat Doch nur sehr wenige Polen hätten den Heldenmut aufgebracht, den NS-verfolgten Juden zu helfen – trotz angedrohter Todesstrafe durch die Deutschen und trotz drohenden Verrats durch andere Polen. Die meisten Polen seien gleichgültig geblieben. Katholische Warschauer hätten sich auf einer Schiffschaukel vergnügt, während der Wind bereits Asche aus dem brennenden Ghetto über die Mauer blies, andere hätten ihre Hilfe explizit verweigert und sogar Juden direkt an die SS oder Gestapo verraten. Engelking, selbst Polin, bedauerte in dem Interview, dass ihre Landsleute im Zweiten Weltkrieg das »historisch-moralische Examen« nicht bestanden hätten.
Polens Premierminister warf ihr vor, eine »antipolnische Erzählung« zu verbreiten, die nichts mit »redlichem historischen Wissen« zu tun habe. »Historische Redlichkeit« gebe es nur, »wenn sie mit unseren kollektiven, gemeinschaftlichen Erwartungen« übereinstimme, meint Morawiecki. Seiner Ansicht nach hat Geschichtswissenschaft also nichts mit der Wahrheit zu tun, sie soll lediglich die Erzählung liefern, die den Polen erlaubt, sich als »Helden und Opfer« zu fühlen.
In diesem Sinne rücke das von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gegründete Witold-Pilecki-Institut die Polen, die sich stets für Juden eingesetzt hätten, bereits ins rechte Licht. Dass Yad Vashem den vom Pilecki-Institut neu entdeckten Judenrettern meist nicht die Medaille der »Gerechten unter den Völkern« verleiht, weiß allerdings kaum jemand in Polen.
Przemyslaw Czarnek, der Minister für Bildung und Wissenschaft, unterstützt die Ansichten von Morawiecki. Er kündigte an, Forschungen in Auftrag zu geben, die belegen sollen, dass Polen während des Zweiten Weltkriegs massenhaft Juden geholfen hätten.
opfer »Es ist nicht die Rolle von Wissenschaftlern, die Polen zu beleidigen, die polnische Nation, die das größte Opfer des Zweiten Weltkriegs war«, so Czarnek im Radio RMF. »Ich als Minister werde dafür kein Geld geben«, kündigte er an und machte kurz darauf Ernst mit dieser Drohung. Das Institut für Philosophie und Soziologie an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, zu dem auch Engelkings Zentrum für die Erforschung des Holocaust gehört, erhielt keine zusätzliche finanzielle Unterstützung, wie alle anderen Institute.
Bereits im März 2021 hatte Czarnek das Werk des Zentrums Und noch immer ist Nacht als »antipolnisches Schmierblatt« bezeichnet und angekündigt, dass Forschungsstipendien nur noch für »authentische und redliche« Wissenschaft vergeben würden.
Die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch Polens regierende Nationalpopulisten sorgt weltweit für Empörung. In Polen stellten sich zudem zahlreiche Forschungs-Institute hinter Barbara Engelking. Auch führende Holocaust-Forschungszentren in Israel, den USA und Kanada fordern die Regierung Polens auf, kritische Holocaust-Forschung nicht zu zensieren. Engelking wird hingegen von den Universitäten in Tel Aviv und Jerusalem für ihre wegweisenden Bücher mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet.