Ich denke schon länger über Alija nach und möchte diesen Sommer aufbrechen», sagt der 31-jährige Psychiater Dan, der nicht will, dass sein Familienname in der Zeitung steht. Er hat schon länger vor, mit seiner Partnerin und seinem Kind nach Israel auszuwandern: «Mein Vater ist Israeli, er hat mir vermittelt, dass es Juden nirgends so gut geht wie in Israel.» Dan will sein Vorhaben jetzt in die Tat umsetzen, da «antisemitisches Gedankengut in Frankreich immer freier geäußert wird». Es schockiere ihn nicht, dass 2012 in Toulouse ein Verrückter wie Mohamed Merah auf Menschen geschossen hat, wohl aber, dass «ein Mann, der Kinder tötet, im Internet so viel Beifall erhält».
Auch der 36-jährige Marco Linhart will Frankreich verlassen. Er ist orthodox und fühlt sich in Sarcelle, einem Vorort von Paris, nicht mehr sicher: «Ich passe ständig auf, wer hinter mir läuft. Meine Frau geht nur noch aus dem Haus, um die Kinder zur Schule zu bringen.» Im Treppenaufgang seines Hochhauses habe jemand in Großbuchstaben den Namen «Merah» an die Wand geschrieben, erzählt er. Und in den Koscherladen, in dem er jeden Tag einkauft, hat vergangenes Jahr jemand eine selbst gebastelte Handgranate hineingeworfen.
Zahlen Wie die beiden Männer wandern immer mehr französische Juden nach Israel aus. Die Zahl der Emigranten wächst immens, sie hat sich zwischen 2012 und 2013 mehr als verdoppelt. Der Jahresbericht der Jewish Agency in Paris weist eine Steigerung von 63 Prozent aus. Damit gibt es in Israel erstmals mehr Neueinwanderer aus Frankreich als solche aus den USA. Experten machen für diesen Trend nicht nur den wachsenden Antisemitismus, sondern auch die Wirtschaftskrise verantwortlich.
Roger Cukierman, Präsident des repräsentativen Rates der jüdischen Einrichtungen Frankreichs (CRIF), schränkt zwar ein, dass die Zahlen sich noch im normalen Rahmen bewegten und kein Exodus stattfinde, er räumt aber ein, dass die jüdische Gemeinde voller Sorge sei.
Nach einer im November veröffentlichten Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA) meinen 85 Prozent der Juden in Frankreich, dass Antisemitismus in ihrem Land ein Problem darstellt. Der Mittelwert aller untersuchten Länder liegt bei nur 66 Prozent. Laut der Umfrage trägt sich fast die Hälfte der französischen Juden mit dem Gedanken, nach Israel auszuwandern. 29 Prozent fürchten sich davor, ihr Jüdischsein öffentlich zur Schau zu stellen – so wie der 64-jährige Pariser Menache Manet, der in den nächsten Tagen mit seinem Sohn und seinen vier Enkelkindern auswandern will: «Ich bin in einem zivilisierten Land aufgewachsen», sagt er, «aber heute nehme ich meine Kippa auf dem Weg zur Synagoge ab.»
Scheideweg Nach Ansicht von Arno Klarsfeld von der Organisation «Söhne und Töchter der Deportierten Frankreichs» steht das Land am Scheideweg: «Die Juden werden Frankreich nach und nach verlassen. Wer es sich leisten kann, tut es schon jetzt.»
Offenbar glauben nur wenige dem Versprechen von François Hollande, Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen, denn der Präsident hat bisher kaum konkrete Maßnahmen ergriffen. Nach den Anschlägen von Toulouse im März 2012 scheint die Alija für viele die einzige Lösung zu sein. Marco Linhart sagt: «Wir fragen uns: Wo ist es sicher für uns? Ich hoffe, dass die Juden diesmal rechtzeitig gehen.» Ihm und rund 73 Prozent der Teilnehmer der FRA-Studie macht vor allem der Islamismus Angst. Die radikale Rechte und damit auch den rechtspopulistischen Front National empfinden nur 27 Prozent der französischen Juden als Bedrohung.
Arbeitslos Für die Entscheidung zur Alija spielen auch wirtschaftliche Gründe eine Rolle. Bei einem Wachstum, das gegen Null geht, und einer Arbeitslosenquote von rund zehn Prozent fühlt sich so mancher von der Aufbruchstimmung angezogen, die in Israel in einigen Branchen herrscht.
Olivier Cohen, der gerade seinen Abschluss gemacht hat, sagt, dass sich in Frankreich «nichts tut», es gebe «keine Aussichten, keine Jobs». Er wünsche sich ein «dynamisches Umfeld». Austauschprogramme für junge Leute wie Masa Israel oder Bac Bleu Blanc, die jungen Erwachsenen eine Reise nach Israel, Studienaufenthalte oder Freiwilligendienste ermöglichen, fördern die Bereitschaft zur Auswanderung. Etwa 70 Prozent der Franzosen, die an dem Masa-Programm teilnehmen, gehen später nach Israel.
Vor wenigen Wochen hat die Regierung Netanjahu angekündigt, ein neues Programm aufzulegen, das bis 2017 an die 42.000 französische Juden zur Alija bewegen soll. Manche zionistischen Webseiten bezeichnen es bereits als «Rettungsprogramm». Israel will mehr französische Diplome anerkennen, hauptsächlich im medizinischen Bereich. Auch sollen Neueinwanderer mehr Hilfen bei der Arbeits- und Wohnungssuche und bei der Auswahl von Schulen bekommen.
Dan hat nun die von Israel verlangten zwei Jahre Erfahrung in seinem Beruf als Psychiater und Suchtberater gesammelt: «Nach zwei Monaten Praktikum kann ich dort arbeiten, und in Israel sucht man in allen Bereichen Spezialisten.» Er will sich in einem Vorort von Tel Aviv niederlassen und erst einmal Hebräischkurse besuchen. Denn bisher reichen seine Sprachkenntnisse nur für die Konversation im Alltag.