Die Suche nach einem Nachfolger für den langjährigen britischen Oberrabbiner Jonathan Sacks läuft. Doch während Bewerbungsschreiben eintreffen und Gespräche geführt werden, steht die Frage im Raum, ob das Amt heute überhaupt noch Bedeutung hat.
Als Autor und Redner, der sich zu modernen jüdischen und sozialen Themen äußerte, lenkte Sacks international große Aufmerksamkeit auf das Amt. Er wurde allgemein als Botschafter für das gesamte britische Judentum anerkannt. »Sacks ist jemand, der von der Bevölkerung dieses Landes als spirituelles Vorbild geachtet wird«, sagt Alexander Goldberg von der Universität Surrey.
polarisierung Doch während Sacks’ 21-jähriger Amtszeit sind die Mitgliederzahlen in den Gemeinden stark zurückgegangen, vor allem bei den gemäßigten orthodoxen Juden, deren Vertreter er ist. In einer Zeit zunehmender Polarisierung zwischen den einzelnen Strömungen wurde Sacks dafür kritisiert, dass er die progressiven und säkularen Juden vor den Kopf stieß, insbesondere bei Themen, die die Zugehörigkeit zum Judentum betreffen. Dem Oberrabbiner wird eine Neigung zur ultraorthodoxen Gemeinde nachgesagt, während Reformbewegung, Liberale und Konservative seine Autorität nicht anerkennen.
»Oberrabbiner Sacks ist ein sehr weiser Ratgeber, der viel für den interreligiösen Dialog getan hat. Er ist eine wertvolle Ergänzung für die jüdische Gemeinde in Großbritannien«, sagt Ben Rich, Chef der Reformbewegung. Sacks sei »sehr gut, was die Beziehungen zwischen den Religionen betrifft, aber weniger gut, wenn es um innerjüdische Dinge geht.«
Die Zersplitterung der britischen Juden hat zu einer Debatte darüber geführt, was das Amt des Oberrabbiners heute bedeutet: Wer soll es repräsentieren? Und wo soll der Schwerpunkt des Amts liegen? Meir Persoff, langjähriger Redakteur beim Jewish Chronicle in London, meint: »Das Oberrabbinat hat das Verfallsdatum überschritten.«
Es habe »mehr Streit als Eintracht« hervorgebracht. »Um des Friedens willen ließen die nicht-orthodoxen Bewegungen es zu, dass Sacks als Sprecher für das britische Judentum auftrat. Doch sie liegen in heftigem Streit mit ihm, was Themen wie Konversion, Ehe und Scheidung betrifft.«
Geschichte Das Oberrabbinat wurde in Viktorianischer Zeit nach dem Vorbild des Erzbischofs von Canterbury geschaffen. Die Monarchie sollte einen zentralen Ansprechpartner des britischen Judentums bekommen. Der Oberrabbiner wird von der United Synagogue, dem Dachverband der orthodoxen Synagogen, gewählt, der über die Wahlmethode entscheidet und die Berufungskommission ernennt.
Als das Amt ins Leben gerufen wurde, waren 85 Prozent der britischen Juden orthodox. Heute tritt das Judentum immer weniger als homogene Gemeinschaft in Erscheinung. Laut dem Board of Deputies of British Jews sank die Mitgliedschaft in den Synagogengemeinden von 99.763 im Jahr 1990 auf 82.963 im Jahr 2010. Die moderne Orthodoxie verlor im gleichen Zeitraum rund ein Drittel ihrer Mitglieder. Die ultraorthodoxe Gemeinde hingegen hat sich verdoppelt, und auch die winzige konservative Gemeinde wuchs rapide.
In der modernen orthodoxen Gemeinde überlegt man, wie der Bewegung neues Leben eingehaucht werden kann. Eine entscheidende Frage lautet, ob der Oberrabbiner weiterhin in der Lage ist, zu versuchen, das britische Judentum unter einer Dachorganisation zu vereinigen.
Gemeinschaft Alexander Goldberg meint, der Oberrabbiner sollte auch eine Brücke sein zu jenen Juden, die keiner Richtung angehören, denn sie müssen »mit der jüdischen Welt bekannt gemacht werden, wenn sie weiterhin zur Gemeinschaft gezählt werden sollen«. Die Rigidität des Oberrabbinats bei Themen wie Konversion und gleichgeschlechtlicher Ehe entfremde viele junge Juden, so Goldberg.
Ganz gleich, wer ernannt wird, der neue Oberrabbiner wird vor großen Herausforderungen stehen. Das gilt vor allem für das Wachstum und den Einfluss der Ultraorthodoxen, die den Oberrabbiner als Vertreter der Orthodoxie nach außen unterstützen, allerdings nur in begrenzter Hinsicht.
»Das Amt ist sehr wertvoll, weil so die orthodoxe jüdische Perspektive von offiziellen Stellen wahrgenommen wird, wenn die Regierung über Themen wie Schächten oder Beschneidung entscheidet«, sagt Avrohom Pinter, Rektor der ultraorthodoxen Yesodai-Hatorah-Schulen.
Andere jüdische Gruppierungen unterstreichen die Notwendigkeit, dass eine Vielzahl von Stimmen gehört wird. Sie halten das Streben nach einer einheitlichen jüdischen Front für kontraproduktiv. So erklärten Vertreter von Konservativen und Reformbewegung, sie hätten jetzt eigene Rabbiner, die ihre Werte in der Öffentlichkeit vertreten. Erst im Januar ernannte die Reformbewegung ihren ersten offiziellen Gesamtrabbiner. Seine Position entspricht der eines Oberrabbiners.
vielfalt Geoffrey Alderman, Kolumnist beim Jewish Chronicle, findet das Amt des Oberrabbiners »albern und teuer«, weil es nicht mehr angehe, dass ein Einzelner das britische Judentum vertritt. Es gebe »eine Vielzahl von britischen ›Judentümern‹«. Die Idee einer »homogenen anglikanischen jüdischen Gemeinde« habe polarisiert.
Stephen Pack, Präsident der United Synagogue, setzt indes die Suche nach einem neuen Oberrabbiner fort und hofft, weit vor Sacks’ Emeritierung im September 2013 Ersatz gefunden zu haben. »Wollen wir die Dinge für die nächsten 20 Jahre weiter so betreiben? Oder erkennen wir an, dass die demografischen Veränderungen zu neuen Kräfteverhältnissen geführt haben und dass es einen Spielraum gibt, die Sachen anders zu machen?«, fragte Pack. »Ich glaube, wir werden Kandidaten erleben, die erfrischende und neue Visionen mitbringen, wie sie den Job machen möchten.«