Schweiz

Eine Stadt will sich nicht stellen

Fehlendes Bewusstsein für die Vergangenheit: Abendstille unter den Dächern von Payerne Foto: cc, Roland Zumbühl

»Nein, diesen Ort betrete ich nicht – niemals!« Die abwehrende Körperhaltung und der auf einmal verstörte Blick des sonst sehr freundlich wirkenden älteren Herrn verstärkt die Wirkung des Satzes. Mit »diesem Ort« meint er das Westschweizer Städtchen Payerne. Es liegt friedlich in die Landschaft eingebettet zwischen dem Kanton Waadt und dem Kanton Fribourg. Rund 9.000 Einwohner, eine kleine historische Altstadt. Seinen wahren Namen möchte der Mann nicht in der Zeitung lesen, weil die Ereignisse von 1942 noch immer nachwirken und er negative Reaktionen fürchtet. »Es gibt noch immer viel Wirrköpfe hierzulande«, sagt er.

MORD Die Ereignisse von 1942: An einem schönen Frühlingstag vor fast genau 70 Jahren – rund um die Schweiz tobt der Zweite Weltkrieg – wird der jüdische Viehhändler Arthur Bloch aus Bern in Payerne von fünf jungen Männern bestialisch ermordet.

Einfach so, nur weil er Jude ist und weil sie, allesamt Westschweizer Hitler-Jünger, trotz Stalingrad weiter fanatisch an den »Endsieg« glauben. Da es im Ort keine Juden gibt, locken sie Bloch unter dem Vorwand, ihm eine Kuh zeigen zu wollen, in einen Stall, erschlagen ihn, zerstückeln seine Leiche und werfen sie in den nahen See. Für die Mörder lohnt sich die Untat vorerst auch materiell: Die rund 4.000 Franken – für damalige Begriffe viel Geld –, die sie bei Bloch finden, teilen sie untereinander auf.

»Wissen Sie, die schreckliche Tat wirkte nach. Meine Großmutter hatte für den Rest ihres nur noch kurzen Lebens Angst«, sagt der ältere Herr. Er ist der Enkel von Arthur Bloch. Seine Großmutter wird nur einige Jahre nach ihrem ermordeten Ehemann sterben, an Krebs. Payerne ist für den Enkel deshalb nicht einfach ein historisches Ereignis, das zeigt, dass die (zahlenmäßig wenigen) Schweizer Nazis wie ihre deutschen Vorbilder vor nichts zurückschreckten.

Es ist auch ein Stück Familiengeschichte: »Meine Mutter hat meiner Schwester und mir später wenig erzählt vom Mord an unserem Großvater«, sagt er an diesem schönen Frühlingstag im Wohnzimmer seines Hauses in Zürich.

UNWILLE Vor ihm liegen zahlreiche Zeitungsauschnitte und Dokumentationen, die über diesen Fall im Laufe der Jahre erschienen sind. Sein Interesse am tragischen Ende des Großvaters erwachte bereits, als er ein junger Mann war. Er erkannte, dass sich seine Biografie und die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in Payerne irgendwie verschränkten.

Diese Verschränkung faszinierte auch den 2009 verstorbenen Schriftsteller Jacques Chessex. Er stammte selbst aus der Gegend und rollte mit seinem viel beachteten Roman Ein Jude als Exempel (Nagel & Kimche 2010) den ganzen Fall nochmals auf – sehr zum Unwillen der Gemeindebehörden von Payerne, die den Mord von 1942 gern totschweigen würden. Der damalige Gemeindepräsident hätte das Buch sogar am liebsten verbrannt – eine schauerliche Aussage.

Die ärgert den Enkel derart, dass er Payerne aus seinem persönlichen Kompass gestrichen hat. »Erst, wenn man dort ein Denkmal oder wenigstens eine Plakette zur Erinnerung an meinen Großvater errichtet, werde ich dorthin fahren.«
Doch dafür stehen die Aussichten derzeit schlecht. Zwar rang sich das Gemeindeparlament zu einer »Verurteilung« des Mordes von 1942 durch, für den drei der Angeklagten zu lebenslangem Zuchthaus, die anderen zu langen Strafen verurteilt wurden. Doch eine weitergehende Forderung vieler, nicht bloß jüdischer Kreise, eine Straße im Ort nach Arthur Bloch zu benennen, stößt auf Widerstand.

Augenwischerei Besonders ärgern den Enkel die Argumente, die dagegen vorgebracht werden: zum Beispiel, dass solch ein Straßenschild oder eine Gedenkplakette von den geistigen Nachkommen der damaligen Täter beschmiert werden könnte. Auch mit dem – ebenfalls abgelehnten – Kompromissvorschlag, eine Straße in Payerne »Straße des guten Zusammenlebens« zu nennen, kann der Enkel nichts anfangen. Das sei Augenwischerei, meint er. »Die Menschen in Payerne wollen sich offenbar nicht ihrer Vergangenheit stellen. Aber sie täuschen sich: Solange sie es nicht tun, wird sie die Tat von 1942 immer wieder einholen.«

Da hat er vermutlich recht: Denn zurzeit sammelt der Genfer Filmemacher Jacob Berger Geld für die Verfilmung des Romans Ein Jude als Exempel.

Frankreich

Zuflucht vor Mobbing

Weil die Zahl antisemitischer Vorfälle dramatisch steigt, nehmen immer mehr jüdische Eltern ihre Kinder von öffentlichen Schulen und schicken sie auf private. Eine Erkundung in Paris

von Florian Kappelsberger  12.01.2025

Polen

Duda würde Netanjahu nicht verhaften lassen

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal. Kommt der israelische Ministerpräsident trotz eines Haftbefehls gegen ihn?

 09.01.2025

Kalifornien

Synagoge fällt Feuern von Los Angeles zum Opfer

Die riesigen Brände gefährden auch jüdische Einrichtungen

 08.01.2025

USA

Welcome to Jiddishland

Nirgendwo sprechen so viele Menschen Jiddisch wie in New York. Und es werden immer mehr. Die Mameloschen hat die Grenzen der chassidischen Communitys längst überschritten

von Jörn Pissowotzki  08.01.2025

Social Media

Elon Musk hetzt wieder gegen George Soros

Der Berater des designierten US-Präsidenten Donald Trump bedient sich dabei erneut der Figur des Magneto aus dem Marvel-Universum

von Ralf Balke  08.01.2025

Interview

»Die FPÖ gilt als Prototyp des Rechtspopulismus«

Demokratieforscher Simon Franzmann über den Rechtsruck in Österreich

von Michael Grau und Daniel Behrendt  08.01.2025

Meinung

Der Neofaschist Herbert Kickl ist eine Gefahr für Österreich

In der FPÖ jagt ein antisemitischer »Einzelfall« den anderen, ihr Obmann will die liberale Demokratie abschaffen und könnte schon bald Kanzler sein

von Bini Guttmann  08.01.2025

Universität

Preise der »World Union of Jewish Students« in Berlin vergeben

Die weltweite Vertretung jüdischer Studierender hat ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert und besonders verdienstvolle Personen und Verbände ausgezeichnet

 07.01.2025

Islamismus

Paris gedenkt Anschlag auf »Charlie Hebdo«

Vor zehn Jahren starben bei Anschlägen auf die Zeitschrift »Charlie Hebdo« und einen koscheren Supermarkt in Paris 17 Menschen

von Michael Evers  07.01.2025