Slowakei

Eine Rolle reist durch Europa

Den Trick mit dem Schatz hatte sich der Vater von Imrich Donath ausgedacht. Es war die Zeit mitten im Zweiten Weltkrieg, er gehörte zu einer der angesehensten jüdischen Familien im slowakischen Städtchen Šal’a, und die Torarolle der Gemeinde wollte er vor den Nazis in Sicherheit bringen.

Er versteckte sie im Keller seines Hauses, neben ihr deponierte er zur Ablenkung teures Silber und Kristallglas. Während die Familie im KZ war, kamen auch tatsächlich Plünderer – sie fanden das Versteck, nahmen Silber und Kristallglas mit und ließen die Tora unbeachtet liegen. Was sollte an uraltem Pergament schon wertvoll sein?

Wenn Imrich Donath heute über seine Familie erzählt und über sein Leben, dann klingt das so, als spiegelten sich in diesem einen Familienschicksal alle Wirrungen, die das 20. Jahrhundert in Mitteleuropa mit sich brachte. Donaths volles Haar ist inzwischen grau geworden, 76 Jahre alt ist er und lebt heute 900 Kilometer von seinem slowakischen Geburtsort entfernt, in Bad Homburg. Dort hat er es als Mitarbeiter einer Versicherung zu Wohlstand gebracht, und dass er heute slowakischer Honorarkonsul ist, hält die Verbindung zu seinen Wurzeln lebendig.

Die Tora aus Šal’a wurde zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Bad Homburg

Und die Tora aus Šal’a, sie lebte ihr eigenes Leben: Sie wurde erst zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Bad Homburg, an dessen Renaissance sich Imrich Donath beteiligte. Und jetzt ist sie in der Gedenkstätte im tschechischen Theresienstadt zu sehen.

Dort, in der alten Habsburger Kasernen- und Festungsstadt, richteten die Nazis ein Sammellager und KZ ein, in das viele Juden aus der früheren Tschechoslowakei deportiert wurden, bevor man sie in andere KZs verschleppte. In einem Festakt, bei dem auch der tschechische Präsident Petr Pavel dabei war, übergab Imrich Donath das wertvolle Pergament an den heutigen, den letzten Bestimmungsort.

»Mein Vater hat immer gesagt: ›Sei ein stolzer Jude! Ein Jude bist du sowieso – also sei immer ein stolzer Jude.‹« Imrich Donath lächelt, wenn er diesen Satz wiederholt: Er habe sich immer daran gehalten, sein ganzes Leben lang, und seine längst erwachsenen Kinder hätten den Satz auch verinnerlicht. Donath selbst ist in der Frankfurter Gemeinde aktiv, und er stand auch zu seinem Judentum, als er dafür – noch in der sozialistischen Tschechoslowakei – Repressalien fürchten musste.

Donaths Vater versteckte die Rolle vor den Nazis unter einem »Schatz« – der Trick funktionierte.

Das war in Imrich Donaths erstem Leben, viele Jahrzehnte liegt es zurück. Die Familie Donath gehörte in der Stadt Šal’a zu den wohlhabendsten Einwohnern. »Vor dem Krieg waren zwölf Prozent der Bewohner Juden, es gab ein ausgeprägtes jüdisches Leben am Ort«, sagt Donath.

Und seine Familie gab immer wieder den Takt an: Sein Großvater Salomon war zeitweise Vorsitzender der Gemeinde und die Familie orthodox. Zu ihrem Wohlstand kam sie mit einem Großhandel für Bier, Wein und Gemüse, später gesellten sich noch eine Essig- und eine Ziegelfabrik dazu. Mit Glück überlebten die Eltern die Konzentrationslager – anders als viele weitere Familienangehörige. Imrich Donath, der kurz nach der Schoa auf die Welt kam, trägt den Vornamen eines ermordeten Neffen.

Imrich ist slowakisch, eng angelehnt an den ungarischen Namen Imre, und tatsächlich sprach die Familie zu Hause Ungarisch. Die Sprache ist bis heute in weiten Teilen der Slowakei sehr verbreitet. In der Schule fand der Unterricht auf Slowakisch statt, »und wenn unsere Eltern sich unterhalten wollten, ohne dass wir Kinder davon etwas mitbekamen, dann wechselten sie ins Deutsche«, erinnert sich Donath. Dass er später das Deutsche mühevoll würde lernen müssen, dass es für ihn einmal zur wichtigsten Sprache werden sollte – das ahnte damals niemand.

1968 entschied sich Imrich Donath, im Westen zu bleiben

Sein Weg nach Bad Homburg begann im Jahr 1968. Es war das Jahr des Prager Frühlings, das kommunistische Regime ließ mehr Freiheiten zu, die Tschechoslowaken atmeten auf. Imrich Donath unterbrach sein Wirtschaftsstudium in Bratislava und Warschau, um einen vierwöchigen Sprachkurs in Wien zu machen – dieser Austausch mit dem Westen war in jener Periode des Tauwetters möglich.

Und dann kamen die Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968, mit Panzern walzten sie die Liberalisierung nieder. Imrich Donath war noch in Wien, als er die Nachrichten aus der Heimat mitbekam. »Um in Ruhe überlegen zu können, bin ich in ein Orgelkonzert im Stephansdom gegangen. Als ich den Dom betrat, hatte ich noch keine Ahnung, was ich machen sollte. Als ich wieder rauskam, wusste ich, dass ich im Westen bleiben würde.«

Zu der Zeit war längst klar, dass es mit dem jüdischen Leben in der Slowakei weitgehend vorbei war. Die meisten Gemeindemitglieder waren in der Schoa ermordet worden, und den Rückkehrern aus den Konzentrationslagern machte die kommunistische Staatssicherheit zunehmend zu schaffen. Verboten war die Religionsausübung zwar nicht, aber die meisten Gemeinden waren unterwandert von Spionen, litten unter dem allenfalls schlecht bemäntelten Antisemitismus der Machthaber.

»Schauen Sie nur, was bei uns in Šal’a passiert ist«, sagt Imrich Donath, und es schwingt viel Sarkasmus mit, wenn er erzählt: »Mitte der 50er-Jahre sollte in der Stadt eine große Fabrik entstehen, es ging um 7000 Arbeitsplätze. Dafür entstand ein neuer Bebauungsplan – und wie der Zufall es wollte, lag die Synagoge genau in dem Gebiet der Fabrik.« Kurzerhand wurde sie abgerissen. Oder der jüdische Friedhof, jahrhundertealt und der Stolz der Gemeinde: Ausgerechnet dort verlief eine neue Schnellstraße, die das Regime asphaltieren ließ. »Nein, es war kein Antisemitismus – es war der Bebauungsplan«, sagt er heute ironisch.

Die Gemeinde musste aufpassen, dass die Staatssicherheit nicht hellhörig wurde

Dass die Torarolle bei Familie Donath im Haus aufbewahrt wurde, rettete sie in den Jahren des Kommunismus zum zweiten Mal. »Die Gottesdienste fanden damals bei uns im Wohnzimmer statt«, erinnert sich Imrich Donath. Ein Junge war er noch, zuständig unter anderem dafür, die Gäste in größerem zeitlichen Abstand aus dem Haus zu lotsen – hätte die ganze Gemeinde auf einmal die Straße betreten, wäre die Staatssicherheit womöglich hellhörig geworden. »Für mich war es beeindruckend, dass die Leute zu uns kamen, um zu beten«, sagt er: »In diesen Momenten wurde mir intuitiv klar, welchen gewaltigen Wert diese Torarolle hat.«

Im Jahr 1979 ließ er sich als junger Mann in Bad Homburg nieder. Sein Wirtschaftsstudium hatte er zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und nach der Flucht aus der Slowakei im Westen noch einmal ganz von vorn beginnen müssen. Von Bad Homburg aus kümmerte er sich um die nächste, die dritte Rettung der Tora.

Ein Freund brachte sie schließlich im Auto von Šal’a nach Bad Homburg. »Ganz offiziell und mit allen Dokumenten«, ruft Imrich Donath – und fügt mit schelmischem Grinsen hinzu, dass er die Tora auf den Zollpapieren denkbar uninteressant aussehen ließ. »Alter Schrank« etwa trug er in die Spalte für den Toraschrein ein, die Tora selbst wurde für die Zollbeamten zum bloßen »Buch«. So kam sie unbehelligt in Bad Homburg an – rund zwei Jahrzehnte, nachdem Imrich Donath selbst seine Heimat verlassen hatte.

Bei ihrer dritten Rettung gelangte die Torarolle als »alter Schrank« ganz offiziell in den Westen.

Und im Westen stand die Torarolle bald darauf wieder im Mittelpunkt einer neuen Entwicklung: Imrich Donath gehört zur Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, ist dort schon lange Jahre aktiv – und der Gedanke ließ ihn nicht los, auch in Bad Homburg das jüdische Leben wieder in Schwung zu bringen. Viele Kontingentflüchtlinge waren in die Stadt gekommen, sodass es erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder die Chance auf ein nennenswertes jüdisches Leben gab.

Mit einigen Mitstreitern mietete Donath als Gründer der »Initiative jüdisches Leben« eine Wohnung an. Von Anfang an war ihm klar, dass dort der neue Platz für die Tora sein sollte. Also baute er im einstigen Wohnzimmer den Schrein auf, und fortan fanden dort Gottesdienste statt. Als nach und nach der Gedanke entstand, in Bad Homburg eine eigene Synagoge zu bauen, und als zugleich ein Gemeindemitglied eine neue Torarolle für das Projekt stiftete, nahm Imrich Donath die historische Rolle aus Šal’a wieder zu sich nach Hause. Im Jüdischen Museum im Hochbunker an der Friedberger Anlage in Frankfurt wurde sie ausgestellt, 2023 war sie für eine Ausstellung sogar im EU-Parlament in Brüssel zu sehen.

In Theresienstadt suchte man eine ursprüngliche Tora aus der Slowakei

So lange, bis die Anfrage aus Theresienstadt ihn erreichte. Dort wurde eine ursprüngliche Tora aus der Slowakei gesucht. Ob er seine Torarolle nach all den geschichtlichen Wirrungen, die sie gut überstanden hatte, und nach all den Neuanfängen, bei denen sie dabei gewesen war, wirklich aus der Hand geben sollte? Darüber dachte Imrich Donath lange nach, die ganze Familie diskutierte. Er selbst ist bis heute sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat. »Einen besseren und würdigeren Ort für die Tora gibt es nicht«, sagt er resolut.

In Theresienstadt wird die Tora jetzt ausgestellt. Jan Roubinek, der Direktor der Gedenkstätte, erklärt vor tschechischen Journalisten: »Eine Synagoge, die keine Torarolle hat, ist keine Synagoge.« Und die Synagoge in Theresienstadt hatte bislang keine. Zweitens sei der historische Zusammenhang wichtig, da im Ghetto Theresienstadt auch slowakische Gefangene festgehalten wurden – auch aus der Stadt, aus der Imrich Donath stammt. »Außerdem können wir die Tora in unserem Bildungszentrum benutzen«, so Roubinek. Das historische Pergament sei die erste Torarolle überhaupt in den Sammlungen der Gedenkstätte Terezín.

An sein Elternhaus im slowakischen Šal’a erinnert Imrich Donath noch ein anderes Relikt, das er von seinen Vorfahren übernommen hat: ein schwerer Sessel. »Als die Familie aus dem KZ wieder zurückkam«, erzählt er, »war unser ganzes Haus geplündert. Alle Möbel, alle Gegenstände waren verschwunden. Nur dieser eine Sessel stand noch irgendwo in der Ecke.«

Inzwischen hat er ihn neu aufpolstern lassen, von seinem Schreibtisch aus deutet er mit ausgestrecktem Arm einmal quer durch sein Arbeitszimmer: »Das da vorne, das ist er!« Es ist das letzte Stückchen Šal’a in seinem neuen Leben in Bad Homburg.

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