Beim Amsterdamer Gebrauchtwarenhändler Italiaander hat es für Channa Kistemaker (65) vermutlich nicht angefangen. Aber ein Bücherfund bei diesem Aufkäufer von Restpartien, Online-Shop-Rücksendungen und Ladenresten, wo man alles finden kann – von Männerhemden bis Schraubenziehern, von Glühbirnen bis Allzweckleim –, hat ihr Anliegen beschleunigt: die Rettung von Siddurim, jüdischen Gebetbüchern, und die Erforschung des Gebrauchs dieser Bücher.
Sie nennt ihr Projekt »De Mokumse Geniza«. Dies bedeutet »Die Amsterdamer Genisa«, denn im jüdisch-niederländischen Sprachgebrauch wird Amsterdam kurz Mokum genannt, abgleitet von dem hebräischen Wort »Makom«: der Ort.
Untersuchung »Schon vor dem Fund bei Italiaander habe ich aus Pietät jüdische religiöse Bücher gerettet, um es mal so auszudrücken. Ich bin keine Bibliophilin im üblichen Sinne des Wortes. Der Reiz eines Buches liegt für mich, gerade auch bei diesem Projekt, in der Art und Weise, wie es Zeugnis davon ablegt, wie es gebraucht worden ist«, sagt Kistemaker.
Sie stütze sich dabei auf die Untersuchungsmethoden der Amsterdamer Judaisten Shlomo Berger und Irene Zwiep. Doch die Art und Weise, wie sie Siddurim untersuche, sei einzigartig, erklärt sie.
»Uns können die alten Siddurim heute zum Gedenken anhalten und uns neu inspirieren.«
Channa Kistemaker
Als die gelernte Altphilologin, die ihren Lebensunterhalt als Mitarbeiterin in der häuslichen Pflege bestreitet, vor vier Jahren hörte, dass es bei Italiaander eine Unmenge an hebräischen und jiddischen Büchern gab, ging sie auf Schatzsuche. In den Rollbehältern fand sie zwei Teile eines 170 Jahre alten Chumasch, der fünf Bücher Mose. Kistemaker dachte sich: Die restlichen sind wahrscheinlich auch hier. Sie organisierte einen Suchtrupp – und hatte recht: Letztendlich ließen sich auch die anderen drei aufstöbern.
Normalerweise aber kauft sie Bücher in Antiquariaten oder bei einem holländischen Online-Buchhandel, wo Zigtausende Privatverkäufer Gedrucktes anbieten. »Ich habe auch einen direkten Draht zur Bibliotheca Rosenthaliana, einer wichtigen Hebraica- und Judaica-Sammlung der Amsterdamer Universität, und zum Joods Cultureel Kwartier, die mir manchmal Dubletten anbieten«, sagt Kistemaker. Gelegentlich sei sie auch in der Lage gewesen, sich Bücher eines »Sjeimesbak« anzusehen, wie eine Genisa einer Synagoge in den Niederlanden auf Jiddisch auch genannt wird.
Besichtigung Inzwischen hat Channa Kistemaker in ihrem Haus in Amsterdam um die 500 Siddurim und andere religiöse Bücher zusammengetragen, die auf schlichte Bücherschränke verteilt sind. Im Prinzip kann jeder diese Bücher ansehen und einsehen, coronabedingt natürlich nach Voranmeldung.
Mit dem Sammeln allein ist es jedoch nicht getan. Fast noch wichtiger sind ihr die Untersuchung der Bände und die Veröffentlichung von Wissenswertem auf ihrem Weblog. Denn jedes Exemplar besagt etwas über den Gebrauch und über jüdisches Leben in den Niederlanden in den vergangenen zwei Jahrhunderten, also seit der jüdischen Emanzipation von 1796, als die holländischen Juden Bürgerrechte erhielten.
Erste Befunde ihrer Untersuchung liegen schon vor, erklärt Kistemaker. »So lässt sich aus den Siddurim ablesen, dass sie sich in der Zeit nur wenig geändert haben. Der Inhalt lag ohnehin schon seit Jahrhunderten großenteils fest.« Die Orthodoxie sei den Ausgaben des holländischen Hebraisten Gabriel Isaac Polak (1803–1869) aus den 1820er-Jahren sehr verpflichtet gewesen. Dieser stützte sich wiederum stark auf das Werk des deutsch-jüdischen Gelehrten und Druckers Wolf Heidenheim (1757–1832) aus Rödelheim, heute ein Stadtteil von Frankfurt am Main.
änderungen Wichtige erste Änderungen in Inhalt und Ausführung der Siddurim traten erst in den 1930er-Jahren ans Licht, gleichzeitig mit dem Entstehen einer liberal-jüdischen Bewegung in den Niederlanden, unter Einfluss des deutschen Judentums.
Kistemaker glaubt, dass es der Orthodoxie damals nicht darum ging, dem entgegenzuwirken, sondern dass sie vielmehr darauf bedacht war, der Säkularisierung Einhalt zu gebieten, und darum in den Siddurim Änderungen angebracht hat. Aber das sind vorläufige Schlussfolgerungen, und es gibt noch viel zu tun, ist sich Kistemaker bewusst.
Ist die Zeit jetzt reif oder drängt sie? Beides treffe zu, verdeutlicht Kistemaker. »Ein umfangreiches Stück holländisch-jüdischen Erbes, das für Museen, Bibliotheken und Archive meist nicht interessant genug ist, könnte für immer verschwinden.«
Die Siddurim und andere religiöse Bücher für den täglichen, persönlichen Gebrauch enden im Sjeimesbak oder gar im Reißwolf. Andererseits gelangt man immer mehr zu der Erkenntnis, dass Bücher als materielle Objekte Geschichte bewahren und erzählen. »Für uns jetzt und für künftige Generationen können sie ein Berührungspunkt sein, um zu gedenken, Historisches zu untersuchen und sich inspirieren zu lassen.«
STIFTUNG Für die Zukunft hat Kistemaker innige Wünsche und große Pläne. So möchte sie eine Stiftung oder eine Firma gründen, worin sie ihre Idee handfest machen, professionalisieren und zur gleichen Zeit einem breiteren Publikum zugänglich machen kann. Ihr Ideal ist ein spezialisiertes Wissenszentrum, wo sich ihre Arbeit und die anderer ausweiten lässt – ein kleiner Kern mit Wachstumsmöglichkeiten.
Für die Zukunft hat Channa Kistemaker innige Wünsche und große Pläne.
Diese Stiftung sollte über genügend Mittel verfügen, damit Kistemaker sich diesem Projekt in Vollzeit widmen kann. Außerdem sollte ihr Weblog eine professionelle Website werden, die das breite Publikum interaktiv beim Projekt miteinbezieht.
Sie erwartet, dass die Mokumse Geniza dann einen Aufschwung bekommt und dass man ihr viele Siddurim und andere religiöse Bücher anbieten wird. Aber wo soll sie die alle lassen? Jetzt hat sie zu Hause noch Platz, aber wenn immer mehr dazukommen, wird sich das bald ändern. Also wäre ein praktischer Lagerraum für Forschungsmaterial sehr willkommen, eine richtige Genisa also. »Ich möchte ja nicht, dass die Siddurim mit mir begraben werden«, sagt die Sammlerin und lächelt.
Gibt es unter den 500 Siddurim einen, den sie besonders ins Herz geschlossen hat? »Ja, den gibt’s«, sagt sie. »Mein Lieblingsbuch ist das persönliche Gebetbuch von jemandem, dessen Namen ich aber aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht nennen werde. Ich habe es von seiner Enkelin bekommen. Dieser Mann hat es ein halbes Jahrhundert benutzt und daraus gebetet. Das sieht man diesem Siddur an. Jetzt dawne ich tagtäglich daraus.«
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