Heiß und stickig war es in ihrem Versteck. Viele dicke Pelze drückten auf den Körper der kleinen Barbara. Zu atmen wagte sie ohnehin kaum. Völlige Stille. Dann die grelle Stimme, die bis ins Mark drang: »Hochberg!« Barbara zuckte zusammen, kniff die Augen zu und hoffte. »Sind hier Juden?«, rief die Stimme – noch lauter. Dann ein Schuss. Ein zweiter. Keines der Kinder, die sich im Lager der chemischen Reinigung versteckt hatten, machte einen Mucks. Unerträgliche Angst. Und doch hielten sie still. So lange, bis die drohenden Schritte der Wehrmachtssoldaten sich entfernt hatten.
Mehr als sieben Jahrzehnte später weht der eisige Wind der nun 83-jährigen Barbara Góra um die Nase. Keine 20 Meter von der Stelle entfernt, an der die noch heute kindlich kleine Frau um Haaresbreite der Deportation entkam, späht sie durch einen Zaun und klammert sich daran fest. Beinahe muss sie ihren weinroten Hut festhalten. Sie zieht den knielangen blauen Mantel enger um ihren Körper. »Dort drüben«, sie deutet durch die Gitterstäbe auf eine monumentale Ruine. »Das ist Pawiak.«
Pawiak. Das Gefängnis gegenüber der Straße, in der Góra einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Dieser Ort erinnert sie an Erschießungen, die nächtlich zu hören waren. An Schreie. An Angst? »Nein«, sagt sie. »Ich habe früh gelernt, keine Angst zu haben. Nur so haben wir überlebt.«
Child Survivor Heute lebt Barbara Góra, wie sie sich seit dem Ende des Kriegs nennt, allein in einem Appartement in Warschau. Im Jahr 2011 fand in Warschau ein Welttreffen der Kinder der Schoa statt. Eine Vereinigung von Menschen, die heute allesamt Rentner sind. Damals war Góra zum letzten Mal in ihrem ehemaligen Wohngebiet. Nun zeigt sie auf einem Rundgang die Orte ihrer Kindheit. Etwa den alten Sinfoniesaal, wenige Minuten vom Pawiak entfernt. Heute ist dort ein modernes Kino mit mehreren riesigen Sälen untergebracht. Vor dem Haus, in einem Hinterhof am Rand des ehemaligen Ghettos, spielen Kinder. Góra hält inne und erinnert sich: »Wir hatten in den 40ern trotz allem eine normale Kindheit«, erzählt sie. Gemeinsam mit ihrer Schwester besuchte sie Konzerte, an die sie sich noch heute erinnert. Das Leben im Ghetto war zu dieser Zeit normal – zumindest für Kinder.
Warum es solche Ghettos in Polen gab, wussten sie nicht. »Wir haben uns darüber gar keine Gedanken gemacht«, erzählt Góra. Schließlich habe es sie überall gegeben, in jeder Stadt, also musste es wohl einfach so sein. Während sie erzählt, bleibt sie immer wieder stehen, blickt auf ihren zerfledderten Stadtplan und ändert ihre Richtung. »Heute«, sagt sie, »sieht alles anders aus als früher.« Im Lauf der Jahre hat sich die polnische Hauptstadt weiterentwickelt. Wo einst Hauptstraßen entlangführten, stehen heute Häuser, wo Häuser waren, sind neue Wohnviertel entstanden.
Vor dem Krieg hieß Barbara Góra Irene Hochberg. Ihr heutiger Name schützte sie. Dass sie damals überlebt hat, war Glück, sagt sie. Sie ist eine der wenigen, die es hatten. Ein Drittel der Bevölkerung Warschaus bis 1940 war jüdisch. Rund 300.000 Menschen. Dann kamen die Nazis. Sie befahlen den Juden, in einen Bereich im Nordwesten der polnischen Hauptstadt zu ziehen. Im November 1940 ließen sie das Areal ummauern. Zwei Jahre später begannen die Deportationen nach Treblinka. Heute leben noch 1500 Juden in Warschau. Die einst größte Diaspora der Weltreligion ist zu einer Gedenkstätte des Glaubens geworden.
Eine Schülergruppe aus Israel bereitet sich am Denkmal der Helden auf eine Zeremonie vor. Während ein Jugendlicher die israelische Flagge schwenkt, tragen andere ein Gedicht vor. Kerzen flackern, Gitarrenmusik schwebt durch die Luft. Góra sieht den Jugendlichen zu.
Hat sie selbst Kontakte nach Israel? »Ja«, sagt sie, »ich habe dort noch Cousins, die nach dem Krieg mit ihren Familien ausgewandert sind.« Im vergangenen Jahr besuchte sie einer von ihnen. »Er ist 93 Jahre alt und noch ganz fit.« Sein größter Wunsch sei es gewesen, noch einmal das Land zu sehen, in dem er geboren wurde. Dass er mit seinem Sohn zu Besuch war, der kein Polnisch spricht, war kein Problem. Barbara Góra spricht fließend Englisch.
Sie erinnert sich an die Zeit, als ihre Mutter sie zu Hause unterrichtete: »Es war anstrengend, aber so intensiv, dass ich mit zehn schon in der fünften Klasse war.« »Später, nachdem ich gehört hatte, wie in Berlin gesprochen wird, habe ich gemerkt, dass Deutsch eine wunderschöne Sprache ist«, sagt sie und erzählt, wie ihr Vater häufig auf Deutsch für die Familie sang. Arien aus Operetten.
Sprachen Später kam zu Barbara Góras Sprachschatz neben Englisch und Deutsch auch Russisch hinzu, als sie in Moskau studierte. Auswandern wollte sie nie. »Hier ist doch mein Zuhause«, sagt sie. Ihre beste Freundin zog 1968 nach Israel um. In den 80ern war Góra das bisher letzte Mal dort. »Ich würde meinem Cousin ja nur zur Last fallen«, sagt sie.
Nun ist Zeit für ein Mittagessen. Wie immer geht Góra in ein Restaurant. Kochen kann sie bis heute nicht, aber das Mittagessen ist ihr heilig, und sie bestellt sich eine Portion Fisch mit Reis. Im Warschauer Ghetto, erzählt sie, war das Essen für die Juden streng rationiert. 186 Kalorien, heißt es, habe jeder pro Tag bekommen. Góra erinnert sich nicht mehr genau daran, weiß aber, dass sie mehr hatte: »Mein Vater hatte blonde Haare und konnte deshalb ab und zu unentdeckt durch das Ghetto-Tor spazieren«, erzählt sie und schmunzelt. »Er hat nicht viel mitgebracht, nichts Besonderes, aber wir hatten etwas zu beißen.«
Viele solcher Geschichten sind heute im neuen Museum der Geschichte der polnischen Juden am Willy-Brandt-Platz dokumentiert. Neben Schülergruppen aus Israel sind es vor allem Touristen, Juden aus aller Welt und Menschen auf der Suche nach ihrer Herkunft. Danach wandern sie in den Straßen des ehemaligen Ghettos von Denkmal zu Denkmal, die oft versteckt in den kleinsten Winkeln fast übersehen werden. Sie gehen über Straßen, die heute viel größer erscheinen als in den 40er-Jahren, weil sie in Schutt und Asche lagen.
Nach dem Mittagessen bahnt sich Barbara Góra ihren Weg durch die Rushhour. Immer wieder sieht sie Kindern zu, die unbeschwert spielen. »Bei uns im Ghetto gab es sehr wenige Bäume und Möglichkeiten für Kinder zu spielen«, erinnert sich Góra und hält inne. Ein paar Plätze habe es gegeben, kleine Parks, nicht viele. »Eines Tages«, erzählt Góra, »bin ich dort allein hingegangen und hatte eine Scheibe Brot in der Hand. Plötzlich sprang ein Junge zu mir, riss mir das Brot weg und aß es mit dem Papier. Ich sah den Hunger in seinen Augen.«
Mauerspuren Sie bleibt plötzlich stehen und deutet auf den Boden. Ein bronzener Schriftzug ist zu sehen, der sich wie eine breite Rinne entlang des Gehwegs zieht. »Warschauer Ghetto 1940–1943« ist eingraviert. Dort, wo heute kleine Supermärkte, Restaurants und Parkplätze neben typischen Ost-Plattenbauten entstehen, zog sich einst die Mauer durch die Straßen, die die jüdische Bevölkerung Warschaus von einem normalen Leben trennte.
Nach einer fünfstündigen Reise durch ihre Kindheit wird Barbara Góra müde. Einen Ort will sie aber noch zeigen. Den Umschlagplatz. Der Gedenkort wirkt wie ein großer Parkplatz. Die meterhohe Wand, die drei Seiten des Platzes umgibt, lässt nur ein wenig ahnen, wie sich die Menschen gefühlt haben müssen, die von hier aus nach Treblinka deportiert wurden. Ihre Namen sind in die Mauer gemeißelt. Die Abendsonne blitzt durch einen Spalt und taucht den Platz in ein warmes Licht. »Mein Cousin war dort und konnte fliehen«, sagt Góra. »Er hat niemals darüber gesprochen.«
Auch ihre Eltern sprachen nie mit ihr über ihre Flucht. 1943 war das. Es folgten zwei bange Jahre unter ihrer neuen Identität. Dann kamen die Russen. Und die Jugendliche blieb in Warschau. Gereist ist sie dennoch viel. Sie genoss ihre Freiheit und sah auch Länder wie Deutschland, wo ihr Berlin gut gefallen hat. Oder der Schwarzwald, den sie sehr gerne besuchte. Nur eines fehlt noch auf ihrer Liste: »Irgendwann«, sagt sie, »will ich noch Bayern sehen.«