Es sind Persönlichkeiten wie Simone Veil, um die Frankreich im 20. Jahrhundert bewundert und nicht selten beneidet wurde. Ein Schwarz-Weiß-Bild von 1980 zeigt sie bei einer Bauerndemonstration in Straßburg, das Megafon im Anschlag. »Les combats de Simone Veil« betitelt der Radiosender France Culture auf seiner Webseite das Foto: »Die Kämpfe der Simone Veil«.
Diese Frau war eine Intellektuelle, die sich auf die Niederungen der parlamentarischen Politik einließ und furchtlos für ihre liberalen Überzeugungen einstand: 1974 verteidigt sie als Gesundheitsministerin einer bürgerlichen Regierung im Parlament das Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung. Die Nationalversammlung, zusammengesetzt aus 481 Männern und neun Frauen, nimmt mit den Stimmen der Sozialisten das Gesetz an. Bis heute heißt es »Loi Veil« (Veil-Gesetz).
abtreibungsgegner Gehasst wird sie dafür bis heute. Simone Veil starb vergangenen Freitag im Alter von 89 Jahren in Paris. Noch im Tode und 43 Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes bewerfen ihre Gegner sie mit Schmutz. Das Internetmagazin »Katholisches« aus dem münsterländischen Greven, offenbar fest in der Hand erzkonservativer Abtreibungsgegner, beklagt in einer als Nachruf getarnten Tirade eine »gigantische Blutspur« von »7,5 Millionen unschuldigen ungeborenen Kindern« und versteigt sich zu dem Satz: »Die Frau, die einen Holocaust überlebte und einen anderen veranlasste«.
In den vergangenen Tagen ist ihr Leben in Hunderten seriöser Nachrufe noch einmal ausgerollt worden: dass sie, 1927 in Nizza geboren, antireligiös erzogen wurde. Dass sie ihre Familie in Auschwitz verlor, aber das Lager überlebte und noch als alte Frau mutmaßte, sie werde wohl noch in der Todesstunde an Auschwitz denken. Man las auch, dass ihr damals, 1974, Abtreibungsgegner »Veil = Hitler« auf die Haustür schmierten und dass ein französischer Diplomat, als er ihr in den Mantel half, fragte, ob die auf ihren Unterarm tätowierte Zahl ihre Garderobennummer sei.
Die Medien und die Staatenlenker rufen ihr nach: »große Europäerin«, »bürgerliche Feministin«, »historische Französin«. Frankreichs früherer Präsident Nicolas Sarkozy rühmt sie als »unsterblich« und schwärmt von ihren blauen Augen. Für seinen Nachfolger François Hollande ist sie die Verkörperung von Würde, Mut, Rechtschaffenheit. Und Amtsinhaber Macron sagt, Frankreich möge sich an ihr ein Beispiel nehmen. Kanzlerin Merkel betont Veils »unermüdliches, von tiefer Menschlichkeit getragenes Engagement für die Überlebenden des Holocaust«, und Bundesaußenminister Sigmar Gabriel nennt sie eine »Bastion der deutsch-französischen Freundschaft«.
lager Die Schriftstellerin Barbara Honigmann erinnert sich: »Sie hat einmal erzählt, wie sich nach ihrer Rückkehr aus dem Lager niemand für ihre Geschichte interessiert habe und wie viel Zeit es brauchte, bevor überhaupt jemand diese Geschichte erzählen konnte. Ich habe dies in eine Romanfigur einfließen lassen.«
Was bleibt, ist das Bild einer stets französisch-elegant gekleideten Frau mit Megafon, einer vor Energie strotzenden Kämpferin, die ihren Weg ging, allen Widerständen zum Trotz. Widerstände, die einer jüngeren Generation absurd erscheinen mögen: Ihr Mann hielt sie davon ab, Anwältin zu werden. Als sie stattdessen in die Politik ging, bestand er darauf, dass sie ihm regelmäßig Bericht erstattet. Als Präsident Valéry Giscard d’Estaing sie 1974 als Ministerin in die Regierung Chirac holte, war sie die erste Frau in einem Ministeramt seit 1958. Rückgrat, Charisma und Eloquenz prädestinierten sie für höhere Aufgaben. Würde sie Frankreichs erste Präsidentin werden?
1976 schickte sie sich an, für das Bürgermeisteramt in Paris zu kandidieren. Es folgte ein Lehrstück in männlicher Machtdemonstration: Die alte herrschaftliche Garde innerhalb der konservativen Partei hatte endgültig genug von den Fisimatenten dieser Frau, die die Partei gespalten und das Land in Aufruhr versetzt habe. Paris, so tönte der Innenminister, unterwerfe sich niemals einer Frau und gewiss keiner Israelitin!
eu-parlament Aber 1979 wurde Simone Veil doch noch Präsidentin – Präsidentin des Europäischen Parlaments. Noch heute heißt es ehrfürchtig: Welche Ehre! Aber war es das tatsächlich? Das EU-Parlament war damals noch viel mehr als heute ein reines Symbolprojekt, das Präsidentenamt eine Art Ehrenamt im schlechteren Sinne.
In ihrer Antrittsrede vom 17. Juli 1979 klingt Simone Veil seltsam verhalten. Plötzlich spricht sie verquast wie eine Politikerin. Ihr dürfte klar gewesen sein, dass sie keine markigen Reden schwingen konnte, ohne sich lächerlich zu machen. In diesem Amt konnte sie absolut nichts ausrichten. Nach zweieinhalb Jahren endete die Episode. Besondere Vorkommnisse: keine. Oh doch – in den Geschichtsbüchern wird stehen: Simone Veil war die erste Frau, die dieses Amt innehatte.