Es war keine einfache Reise und keine, die sich Ruth Sohn gewünscht hatte. Mit Händen und Füßen wehrte sie sich dagegen, sechs Monate in Ägypten zu leben. Sie kannte das Land von früheren Aufenthalten. »Die meisten Ägypter sind antiisraelisch eingestellt«, sagt die Rabbinerin, die am liberalen Hebrew Union College in Los Angeles lehrt. »Die Ägypter betrachten Israel als ihren größten Feind. Sie dämonisieren das Land und unterscheiden auch nicht zwischen Juden und Israelis.«
Doch Ruth Sohn verstand die Gründe ihres Mannes Reuven Firestone, der schon lange in einem arabischen Land leben wollte, dessen Themengebiet als Professor am Hebrew Union College neben dem Judentum der Islam ist, der sein Arabisch verbessern und in Kairo forschen wollte. Und schließlich sei es eine große Chance, sechs Monate mit Muslimen zu verbringen.
freundlich Im Land fiel ihr als Erstes die Freundlichkeit der Menschen auf. Sehr hilfsbereit war Muhammed im Internet-Café: Er brachte die Antiviren-Software auf Ruths Laptop zum Laufen. Eine Bitte abzuschlagen, ist in Ägypten unüblich – manchmal mit abstrusen Konsequenzen. So geriet Sohn auch an Taxifahrer, die den Weg nicht wussten.
Freunde rieten der Rabbinerin, lieber nicht von ihrer Religion zu sprechen. Ruth Sohn redete ihren Mann Reuven gar mit »Robert« an. »Wir haben die Vorhänge zugezogen, wenn wir die Schabbatkerzen anzündeten«, erzählt sie. »Auch in Gesprächen durfte uns nichts herausrutschen. Auf provozierende Äußerungen durften wir nicht mit verräterischen Antworten reagieren.«
Ihre Kinder gingen auf eine amerikanische Schule in Kairo. Auch dort sollten sie ihre Religion verschweigen, so die Absprache mit dem Direktor. Und wenn es um Israel oder Judentum ging, sollten sie lieber zuhören als zu diskutieren. Auch Ruth Sohn selbst nahm sich vor, eher zuzuhören.
»Die Ägypter lernen kaum jemals einen Juden oder eine Jüdin kennen«, sagt sie. Ihrem ursprünglichen Entschluss entgegen konnte sie sich doch nicht immer aufs Zuhören beschränken. »Ich habe mir gedacht: Wenn die Menschen nicht von mir einen Standpunkt hören, der Sympathie mit Israel ausdrückt, von wem sollen sie es dann hören?« Israel werde in der arabischen Welt als Eindringling empfunden, erzählt Ruth Sohn. Fernsehnachrichten zur Mubarak-Zeit hörten sich einem Witz zufolge so an: Erstens: Mubarak hat eine Großtat vollbracht. Zweitens: Etwas Furchtbares ist geschehen, und Israel trägt die Schuld daran. Drittens: das Wetter.
Ängstlich Große Befürchtungen hatte die amerikanische Rabbinerin, ihrer Haushälterin Mahabbah zu erzählen, dass sie jüdisch ist. Denn Mahabbah war arm und ungebildet, glaubte vielleicht den Stereotypen über Juden und Israel, so die Befürchtung. Zweimal in der Woche trank Ruth mit Mahabbah Tee, unterhielt sich mit ihr und übte dabei Arabisch. An Pessach fragte Mahabbah, was denn die vielen Schachteln zu sagen hätten. Darin befand sich Mazza. »Ich habe ihr erklärt, was Mazza ist, und dass Juden sie an Pessach essen. Ich war wirklich nervös, aber sie reagierte, als ob das völlig in Ordnung sei.«
Ruth Sohn hatte Angst, dass ihre Haushälterin vielleicht bloß höflich gewesen sei und dass in Wirklichkeit alle möglichen Ideen über Juden in ihrem Kopf herumspukten. Aber am nächsten Tag sei Mahabbah mit einer Art Knäckebrot gekommen, das sie für Ruths Familie gebacken hatte. Muslime essen es unter anderem zur Hadsch, ihrer Pilgerfahrt. Das sei ägyptische Mazza, sagte Mahabbah.
Über die freundschaftliche Geste freute sich Sohn sehr, auch wenn sie das Brot nicht essen konnte, denn koscher für Pessach war es nicht. Eines Tages erzählte Mahabbah, dass sie nicht lesen kann. Ägypten ist ein Land mit hoher Analphabetenrate. So übte Ruth Sohn mit ihrer Haushälterin die arabischen Buchstaben. Am Ende der Zeit konnte sie Straßenschilder lesen.
verhasst Ernüchternd war ein späterer Besuch in Ägypten, als Ruth Sohns Mann Reuven Firestone an einer Universität einen Vortrag über die Vorstellung vom auserwählten Volk in Judentum, Christentum und Islam hielt. Der Moderator des Vortrags erwähnte am Rande, dass Reuven Firestone Rabbiner ist. Die kleine Bemerkung hatte Folgen. Gleich drei Zeitungen titelten, ein »jüdischer Rabbiner« habe den Islam beleidigt.
»Natürlich hatte Reuven nicht den Islam beleidigt. Nichts läge ihm ferner«, sagt Ruth Sohn. Ihr Fazit: Solche Erfahrungen zeigten, dass man in Ägypten wirklich nicht jedem von seiner Religion erzählen dürfe und dass es richtig war, sich nur ausgewählten Personen anzuvertrauen.
Im Juli 2011 kehrte die Familie noch einmal nach Ägypten zurück. Mubarak war schon abgesetzt, die Menschen demonstrierten immer noch auf dem Tahrir-Platz. Ruth und ihrem Mann fiel auf, wie frei die Ägypter plötzlich über Politik und die Zukunft des Landes redeten, wie viele Ideen sie hatten. Das war neu. Denn in der Mubarak-Zeit hatte man nie erlebt, dass jemand öffentlich eine politische Idee äußerte. Viel zu groß war die Angst vor dem Geheimdienst. »Die Menschen sagten jetzt wirklich, was sie dachten.«
Heute ist Ruth Sohn sehr besorgt um Ägypten – doch man müsse bedenken, dass das Ringen um Freiheit grundsätzlich schwierig und langwierig sei. Auch in den USA habe es von den Unabhängigkeitskriegen bis zu einer Verfassung lange Zeit gebraucht: geschlagene zwölf Jahre.
Ruth Sohn: »Crossing Cairo. A Jewish Woman’s Encounter with Egypt«. Gaon Books, Santa Fe 2013, 270 Seiten.