Das »Kapern der Erinnerung« – gerne auf Englisch als »Hijacking Memory« bezeichnet – ist eine geniale Wortschöpfung. Denn sie löst Bildassoziationen von einem Schiff aus, das von Piraten gekapert wird und fortan unter falscher Flagge weiterfährt.
Diesmal aber heißt das Schiff »Erinnerung an den Holocaust«, und die Piraten verbannen einen Teil der eigentlichen Besatzung unter Deck, sodass dieser für die Außenwelt unsichtbar wird. Künftig entscheiden also die Piraten über den Kurs der »Erinnerung an den Holocaust«.
Wie aktuell und gefährlich das Phänomen der gekaperten Erinnerung ist, zeigte Mitte Juni eine internationale Konferenz in Berlin, zu der das Haus der Kulturen der Welt, das Einstein Forum und das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin eingeladen hatten.
Schilderung und Analyse der Situation in Polen hatten die Organisatoren auf den Abend des vierten und letzten Tages gelegt, sodass der Holocaust-Historiker Jan Zbigniew Grabowski aus dem kanadischen Ottawa vor weitgehend leeren Stuhlreihen sprach. Die meisten Tagungsteilnehmer und Journalisten waren bereits abgereist.
OPFER Dabei gebührt seinem Beitrag besondere Aufmerksamkeit, haben es doch die in Polen regierenden Nationalpopulisten von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bereits geschafft, im Gedenken an die Schoa vor allem an rechtschaffene Polen zu erinnern, weniger aber an die eigentlichen Opfer – die Juden.
Auch in Prozessen um die »historische Wahrheit«, die das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) gemäß einem speziellen Holocaust-Zensur-Gesetz autoritativ festlegt, gehen Gefahren für die freie Forschung in Polen aus. Grabowski selbst verlor bereits gemeinsam mit der namhaften Holocaust-Forscherin Barbara Engelking ein solches Verfahren, in dem die Richterin sich primär der neuen Parteilinie verpflichtet fühlte.
»Diese Fakten zu leugnen, ist intellektuell und moralisch falsch.«
Jan Grabowski
So beginnt er seinen Berliner Vortrag »Das Kapern der Holocaust-Erinnerung: von Treblinka über Auschwitz bis zum Warschauer Ghetto« mit ebendiesem Prozess. »Am 9. Februar 2021 fällte die Richterin Ewa Jonczyk im Warschauer Bezirksgericht für Zivilrecht ihr Urteil«, führt er aus, setzt noch ein paar Details zur Klägerin und der sie unterstützenden rechtsradikalen Stiftung hinzu und zitiert dann aus der erstaunlichen Urteilsbegründung: »Das Publizieren eines Textes, der Polen ein Holocaust-Verbrechen zuschreibt, das vom Dritten Reich begangen wurde, kann als Verletzung des Identitätsgefühls und des Nationalstolzes angesehen werden.«
Die Richterin ging allerdings von der »Wahrheit« aus, dass Polen niemals Nazi-Kollaborateure waren und daher auch keine Verbrechen an Juden verübt haben konnten. Alle Holocaust-Gewalttaten, so die Annahme der Richterin, seien per definitionem und unabhängig davon, wer sie wirklich begangen hat, vom »Dritten Reich« begangen worden.
Mehr noch: »Historische Ereignisse, die in das Gedächtnis der Gemeinschaft wie auch ihrer individuellen Mitglieder eingegangen sind und als unbestreitbare Fakten gelten, dürfen nicht relativiert werden«, so die Richterin. Dies nämlich würde nicht nur das Gefühl der Zugehörigkeit zum polnischen Volk beeinträchtigen, sondern auch dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild Polens schaden.
KOLLABORATION Für die Historiker, die sich seit Jahren mit verschiedenen Formen der Kollaboration von Polen mit Nazi-Deutschen beschäftigen, darunter auch mit Erpressung sowie Diebstahl jüdischen Eigentums, klang die Urteilsbegründung ihres Schuldspruchs geradezu absurd.
Denn ihre Forschungen hatten ja eine neue Faktenbasis geschaffen: Nicht nur hatten sich Polen in erheblichem Umfang am Raub jüdischen Eigentums beteiligt, vielmehr waren auch Zehntausende polnische Juden durch direktes oder indirektes Zutun ihrer polnischen Nachbarn ums Leben gekommen. Sogar in dem wissenschaftlichen Werk Und immer noch ist Nacht, das dem Prozess zugrunde lag, konnte dies in jedem Kapitel nachgelesen werden.
»Diese Fakten zu leugnen, ist intellektuell und moralisch falsch«, empört sich Grabowski. Weitaus schlimmer sei aber die Annahme eines angeblichen »Rechts auf Nationalstolz«, das jedem Polen wie ein Grundrecht zustehe und gesetzlich abgesichert werde. Auch wenn Grabowski und Engelking ihren Prozess in zweiter Instanz gewonnen haben, ist der Forscher überzeugt: »Das Urteil von Richterin Jonczyk ist kein isolierter Fall, sondern Teil einer Entwicklung, die geradewegs zur ›Holocaust-Verfälschung‹ führt.«
GHETTO Die Vereinnahmung der Schoa für das eigene positive Geschichtsbild sei besonders gut am Beispiel von Gedenkmünzen zu sehen. So habe die Polnische Nationalbank zur 70. Wiederkehr des Kriegsbeginns 1939 gleich zwei Sammlermünzen herausgebracht, die jenen »Polen, die Juden retteten«, gewidmet seien: eine im Wert von zwei Zloty und eine weitere im Wert von 20 Zloty. Juden sind auf keiner der Münzen zu sehen, dafür zweimal eine durchbrochene Ghettomauer und zerschnittene Stacheldrähte, über denen der polnische Adler oder die polnisch-jüdische Hilfsorganisation »Zegota« als Befreier schweben.
»Das ist eine vollkommen falsche Darstellung«, so Grabowski. »Die polnische Untergrundarmee hat keine Ghettomauern eingerissen.« Zegota wiederum, auf der Münze durch drei Polinnen repräsentiert, wurde zwar von der polnischen Exilregierung in London finanziert, aber erst, als von den insgesamt 500.000 Juden im Warschauer Ghetto nur noch knapp 60.000 lebten. Eine jüdische Widerstandskämpferin kommt nicht vor.
Auf einer weiteren Gedenkmünze, die ebenfalls »Polen, die Juden retteten«, gewidmet ist, steht eine Frau im Vordergrund, die Retterin eines kleinen jüdischen Kindes. »Natürlich hat es Polen gegeben, die Juden gerettet haben«, so Grabowski, »aber das war eine verschwindend kleine Zahl sehr mutiger Menschen, auf keinen Fall die Mehrheit der Polen.« Und auch die polnische Untergrundarmee habe keine großen Anstrengungen unternommen, um Juden aus den Ghettos zu befreien.
GESCHICHTSPOLITIK Seit den Wahlsiegen der nationalpopulistischen Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 und 2019 sei das »Kapern der Holocaust-Erinnerung« zu einer quasi-offiziellen Geschichtspolitik des polnischen Staates avanciert, so Grabowski. »Es wurden zahlreiche neue Institute und Museen gegründet, die mit enormen finanziellen Mitteln ausgestattet werden.«
Bereits bestehende Institutionen seien unter Parteikontrolle gestellt worden, allen voran das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) mit mehreren Hundert Mitarbeitern und einem Jahresbudget von rund 100 Millionen Euro. Das kleinere Pilecki-Institut habe vor wenigen Jahren eine Filiale in Berlin eröffnet, um die PiS-Version der polnischen Geschichte auch im Ausland zu verbreiten. Zudem seien zahlreiche »Gongos« entstanden, Nichtregierungsorganisationen also, die vom PiS-Staat organisiert und finanziert werden. Nach außen hin aber treten sie als »unabhängig« auf. Zu ihren Aufgaben gehöre häufig die Verteidigung »des guten Rufs Polens«.
Wer Juden rettete, musste immer mit Verrat durch andere Polen rechnen.
Holocaust-Verfälschern gehe es darum, die Geschichte zu ihren Gunsten umzuschreiben – mithilfe von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten. So sei es wahr, dass einige Polen im Zweiten Weltkrieg Juden halfen. Unwahr sei aber, dass dies Millionen von Polen getan hätten. Im Gegenteil, das Retten von Juden galt vielen damals als »unpatriotisch«.
So mussten die »Gerechten unter den Völkern«, wie die nichtjüdischen Helfer von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel genannt werden, immer mit Verrat durch andere Polen rechnen. Die PiS wolle nun im In- und Ausland und entgegen der historischen Wahrheit den Mythos von Polen als einem »Volk von Judenrettern« etablieren.
Zum Kapern der Holocaust-Erinnerung gehört in Polen auch die Umbenennung von Konzentrations- und Vernichtungslagern, sodass die neuen Namen die Unterscheidung zwischen Konzentrationslagern für polnische Widerstandskämpfer und den Todeslagern für Juden erschwert.
Während im KZ Auschwitz I-Stammlager einige Zehntausend Menschen an Entkräftung, mangelnder Hygiene und Krankheiten starben, ermordeten deutsche SS-Männer in Auschwitz II-Birkenau mehr als 1,1 Millionen Juden. Dies gilt entsprechend für das Arbeitslager Treblinka I und das Todeslager Treblinka II bei Warschau, wo 900.000 Juden ermordet wurden.
Offiziell heißt Auschwitz seit Juni 2007 »Auschwitz-Birkenau – ehemaliges deutsches Nazi-Konzentrations- und -Vernichtungslager (1940–1945)«. Die Namensänderung hatte zur Folge, dass die Opfer zusammengezählt werden, meist mit dem Zusatz »darunter 1,1 Millionen Juden«, obwohl man genauso gut sagen könnte: »darunter 200.000 nichtjüdische Opfer«.
GEDENKTAG Weltweit wird am 27. Januar an die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee erinnert. Die PiS, die erstmals von 2005 bis 2007 an der Regierung war, setzte diesem »Tag der Befreiung« einen polnischen Gedenktag entgegen: Seit 2006 begeht Polen am 14. Juni den »Nationalen Gedenktag an die Opfer der Nazi-Konzentrationslager«. 2015 wurde der Tag umbenannt in den »Nationalen Gedenktag an die Opfer der deutschen Nazi-Konzentrations- und Vernichtungslager«. Erinnert wird an den ersten Transport von 728 polnischen Häftlingen aus dem Gefängnis in Tarnow ins KZ Auschwitz-Stammlager.
Das Vernichtungslager Birkenau gab es 1940 noch gar nicht. »Dennoch wird auf diesem Plakat behauptet«, liest Grabowski laut vor, »Polen waren die ersten Häftlinge des deutschen Todeslagers Auschwitz. 80. Jahrestag des ersten Transportes nach Auschwitz.« Die Leitung des Museums habe auf Social-Media-Seiten dazu Stellung genommen und daran erinnert, dass insbesondere polnische Häftlinge, die in Auschwitz I erkrankten, später oft in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. »Das ist zwar richtig«, konzediert der Historiker, »dennoch ist es falsch, Polen zu den ersten Opfern des Todeslagers Auschwitz II zu erklären.«
Auch in Treblinka sei es zu einem »Kapern der Holocaust-Erinnerung« gekommen, indem die Erinnerungen an das Arbeits- und das Todeslager miteinander vermengt wurden. »Dies erlaubt eine neue Geschichtserzählung, eine Verfälschung des Holocaust«, so Grabowski. Zudem habe vor Kurzem das Pilecki-Institut mit Filiale in Berlin an der ehemaligen Bahnstation Treblinka ein Denkmal enthüllt, das an den Bahnarbeiter Jan Maletka als einen »Judenretter« erinnern soll. Der 21-Jährige wurde von Deutschen erschossen, weil er, wie andere Polen auch, Juden Wasser gab, die im Zug eingesperrt waren.
Manche nutzten die Notlage aus und bereicherten sich.
»Das ist richtig«, so Grabowski, »allerdings taten sie es gegen gute Bezahlung in Dollar, Gold oder Diamanten. Sehr viel Gold. Es gibt keine einzige Zeugenaussage, dass jemand Juden Wasser gab, ohne eine Bezahlung zu fordern. Im Gegenteil: Jüdische Überlebende betonten das in ihren Nachkriegserzählungen immer wieder.«
Maletka habe keinen einzigen Juden gerettet, sondern kurz vor ihrem Tod noch ihre Notsituation ausgenutzt und sich an ihnen bereichert. »Doch nun steht das Denkmal, das an 900.000 ermordete Juden und den ›guten Polen‹ Jan Maletka erinnert, der angeblich ihr Schicksal teilte. Das ist Holocaust-Verfälschung«, so Grabowski.
PROZESS Auch der Prozess scheint noch nicht ausgestanden zu sein. Kurz nachdem Engelking und Grabowski im August 2021 den Sieg in zweiter Instanz gefeiert hatten, erfuhren sie, das Polens Justizminister und Generalstaatsanwalt in einer Person beabsichtigte, eine außerordentliche Beschwerde gegen dieses Urteil einzulegen. Der Prozess würde dann erneut vor dem Obersten Gericht vor der Kammer für Außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten verhandelt werden.
Diese von der PiS gegründete Kammer ist zwar laut Europäischem Gerichtshof in Luxemburg kein Gericht im Sinne der Europäischen Verträge, da es Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter gibt. Doch Polen hat die Kammer bislang weder reformiert geschweige denn abgeschafft. »In normalen Demokratien ist ein zivilgerichtlicher Prozess mit dem Urteil in zweiter Instanz zu Ende«, so Grabowski. »Nicht so in Polen. Hier kann der Justizminister jederzeit ein Gericht anrufen, um das Kapern der Holocaust-Erinnerung, also die Parteiversion der Geschichte, bestätigen zu lassen«, lautet sein bitteres Fazit.