Die Corona-Pandemie hat auch die jüdischen Gemeinden in Europa schwer getroffen – allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Während vor allem in den großen Ländern zahlreiche Todesfälle zu beklagen waren, kamen andere Gemeinden mit dem Schrecken davon. Allerdings müssen einige neben den gesundheitlichen auch mit gravierenden ökonomischen Auswirkungen rechnen.
GRIECHENLAND Victor Eliezer, Generalsekretär des Bundes der jüdischen Gemeinden in Griechenland (KIS), lobt die entschlossene Vorgehensweise der griechischen Regierung im Kampf gegen das Coronavirus. Bereits Ende Februar seien wichtige Schritte wie die Schließung von Gotteshäusern und Schulen sowie die Absage kultureller Veranstaltungen eingeleitet worden, so Eliezer. Bislang hatte die Gemeinde keinen einzigen Todesfall zu beklagen. In ganz Griechenland starben bislang 180 Menschen an Covid-19 (Stand 8. Juni).
Seit dem 18. Mai wird das öffentliche Leben im Land schrittweise wieder hochgefahren. Synagogen sind wieder geöffnet. Allerdings gelten dort wie überall strenge Hygiene- und Abstandsvorschriften. Auch die Schulen des Landes, darunter die jüdischen, öffnen wieder. Die jüdischen Gemeindezentren bleiben aber bis September geschlossen.
Eine Zunahme des Antisemitismus erkennt der KIS-Generalsekretär nicht – im Gegenteil: »Die Griechen freuen sich darauf, schon bald wieder Touristen aus Israel begrüßen zu dürfen.«
ITALIEN Auf der anderen Seite der Adria war die Lage deutlich kritischer. Italien ist, was die Zahl der Todesopfer angeht, das weltweit am viertstärksten von der Pandemie betroffene Land. 235.000 bestätigte Corona-Fälle gab es, fast 34.000 Menschen sind der Krankheit zum Opfer gefallen.
»Einige Dutzend« Todesfälle habe es auch in der relativ kleinen jüdischen Gemeinschaft des Landes gegeben, sagt Guido Vitale, Pressesprecher des jüdischen Dachverbands Unione delle Comunità Ebraiche Italiane (UCEI). Das entspreche ungefähr dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung, fügt er hinzu.
Wie in Griechenland dürfen auch in Italien seit dem 18. Mai religiöse Einrichtungen unter Auflagen wieder öffnen. Doch geschehe dies ganz allmählich, erläutert Vitale. »Solange die Ausnahmesituation nicht vorüber ist, wird auch das jüdische Leben nicht so sein wie vorher – vor allem, weil Menschenansammlungen immer noch vermieden werden sollen.«
FRANKREICH Überdurchschnittlich hart getroffen hat die Pandemie die jüdischen Gemeinschaften in Frankreich und in Großbritannien, dort vor allem in den Großstädten.
In Frankreich, wo rund 500.000 Juden leben, dürfen zwar keine genauen Zahlen nach Religionszugehörigkeit aufgeschlüsselt veröffentlicht werden, und auch die Gemeindevertreter halten sich offiziell mit Spekulationen zurück, doch hinter vorgehaltener Hand wird geschätzt, dass mehr als 1300 der bislang über 29.000 Covid-19-Toten im Land Juden waren – das sind fast fünf Prozent aller Todesfälle.
BELGIEN Ganz anders hingegen im Nachbarland Belgien. Die Hafenstadt Antwerpen ist Heimstatt der größten ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft Mittel- und Westeuropas. Fast 20.000 zumeist charedische Juden leben dort, es gibt rund 50 aktive Synagogen. Bislang seien nur elf Covid-19-Todesfälle registriert worden, sagen Gemeindevertreter, die Opfer seien ältere Menschen mit Vorerkrankungen gewesen.
Im Gegensatz zu charedischen Gemeinden in anderen Ländern hätten die führenden Rabbiner aber schon frühzeitig gehandelt und empfohlen, die von der Regierung verhängten Kontaktsperren und Distanzregeln einzuhalten, meint Gemeindemitglied Michael Freilich, der auch Abgeordneter im belgischen Föderalparlament ist. Die Einhaltung der Regeln sei zudem streng überwacht worden. »Das hat uns vor einem Desaster bewahrt.«
Dennoch kam das religiöse Leben nicht komplett zum Erliegen: Über Balkone und Gartenzäune im jüdischen Viertel hinweg kamen immer wieder Minjanim für das gemeinsame Gebet zusammen. Und für traditionelle Familien, die nicht an Online-Angeboten teilhaben wollten, richteten die Gemeindeinstitutionen Telefon-Hotlines ein, über die Rabbiner Ratschläge geben konnten. Seit dieser Woche dürfen in den Synagogen der Stadt wieder Gottesdienste stattfinden.
GROSSBRITANNIEN Auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist man noch nicht so weit wie in Belgien. Die Bethäuser sind dort nach wie vor geschlossen. »Wir haben keine Informationen von der Regierung, wann sie wieder öffnen dürfen«, sagt Simon Round vom Board of Deputies of British Jews. Bis Ende vergangener Woche seien 484 der mehr als 40.000 Corona-Opfer des Landes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft gewesen, so der Sprecher des Dachverbands. Wie in Frankreich ist auch im Vereinigten Königreich der Anteil der jüdischen Opfer doppelt so hoch wie der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung.
Noch vor den Hohen Feiertagen im Herbst zur Normalität zurückzukehren, scheint für das Board of Deputies angesichts der Lage illusorisch. Auch Barmizwa-Feiern und Hochzeiten werden in den kommenden Monaten, wenn überhaupt, nur eingeschränkt möglich sein. Man sei froh, dass man der Regierung während des Lockdowns einige Zugeständnisse habe abtrotzen können, darunter die Erlaubnis, auch Erdbestattungen von jüdischen Corona-Opfern zu ermöglichen.
RUSSLAND Wie in Großbritannien sind auch in Russland Kirchen, Synagogen und Moscheen noch geschlossen. Auch an Hochzeits- und Barmizwa-Feiern ist momentan nicht zu denken. Nach Angaben von Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sind bislang rund 20 Gemeindemitglieder an den Folgen einer Corona-Erkrankung gestorben, mehr als 100 mussten im Krankenhaus behandelt werden. Insgesamt haben sich bislang eine halbe Million Russen mit dem Virus infiziert, 6000 sind gestorben.
Schon vor der entsprechenden staatlichen Anordnung entschieden die Verantwortlichen der jüdischen Gemeinden in Moskau, die Einrichtungen zu schließen. Selbst nach Wiedereröffnung plane man, für die Mitglieder weiterhin virtuelle Dienste anzubieten, sagt Goldschmidt.
SCHWEIZ Nach Angaben des Generalsekretärs des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), Jonathan Kreutner, sind rund ein Dutzend Gemeindemitglieder an Covid-19 gestorben. Die von der Regierung im März getroffenen harten Maßnahmen hätten sich positiv ausgewirkt. Seit Schawuot sind auch wieder Gottesdienste erlaubt – allerdings unter der Maßgabe der Regierung, dass die Religionsgemeinschaften eigene Schutzkonzepte entwickeln und die Nachverfolgung von Infektionsketten sicherstellen. Schon Ende April habe man der schweizerischen Regierung, dem Bundesrat, ein Schutzkonzept für die Gottesdienste vorgelegt, betont Kreutner.
Während des Lockdowns sei das Gemeindeleben nicht ganz zum Erliegen gekommen, sondern sei »um zahlreiche Unterstützungs- und Online-Angebote ergänzt« worden. »Risikogruppen wurden mit Hauslieferungen unterstützt, und die Sozialdienste haben sich um Betroffene gekümmert. Beeindruckend waren auch die zahlreichen Schiurim oder Predigten und Konzerte, die online angeboten wurden«, so der SIG-Generalsekretär.
ÖSTERREICH Sein Kollege Benjamin Nägele, Geschäftsführer der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, sagt, man habe »Glück, dass die erste Phase der Pandemie in Österreich glimpflich verlaufen ist«. Tendenziell habe es in der Gemeinde weniger Infektionen gegeben als in der Gesamtbevölkerung, so Nägele. Die Pandemie sei aber noch lange nicht vorbei, hebt er hervor. Man plane aktuell jede Woche neu, und es sei praktisch unmöglich, Prognosen zu treffen, ob bis zu den Hohen Feiertagen im Gemeindeleben so etwas wie Normalität herrschen wird. »Solange es keinen Impfstoff gibt, habe ich große Bedenken, mit bis an die Kapazitätsgrenze gefüllten Synagogen die Feiertage zu begehen.«
UNGARN Der Präsident des ungarischen jüdischen Gemeindebundes, András Heisler, ist da optimistischer. Er glaube und hoffe, dass bis dahin wieder alles so sein werde wie vor der Pandemie. Seit dem 12. März standen in Ungarn alle Räder still, doch jetzt wagt man eine vorsichtige Öffnung auch der Gemeindeeinrichtungen.
Die jüdische Bevölkerung des Landes macht rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Laut Heisler ist sie dementsprechend von der Krise betroffen. Auch bei Rassismus und Antisemitismus habe es in den vergangenen Wochen einen spürbaren Anstieg gegeben.
TSCHECHIEN In Prag plagen Tomas Kraus von der Föderation der jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Republik (FZO) andere Sorgen. »Wir waren, Gott sei Dank, gesundheitlich überhaupt nicht von dieser Pandemie betroffen, zumindest bis jetzt nicht«, sagt Kraus. Seit dem 25. Mai sei, was die Gottesdienste angehe, fast wieder alles wie vorher«, meint Kraus und fügt verschmitzt hinzu: »Das ist für uns aber einigermaßen irrelevant. Wir sind ja schon froh, wenn überhaupt ein Minjan zustande kommt.«
Die Corona-Krise hat die jüdische Gemeinschaft in Prag dennoch mit voller Wucht getroffen, betont der FZO-Geschäftsführer. »Unsere Einnahmen hängen fast vollständig vom Tourismus ab.« Tausende besuchen jedes Jahr die historischen Synagogen und jüdischen Friedhöfe in Prag. »Damit ist es jetzt erst einmal vorbei«, befürchtet Kraus. »Wir sind deshalb in einer katastrophalen Situation. Das wird langfristig Einfluss auf das Funktionieren unserer Gemeinde haben.«