Einen Tag lang alle elektronischen Geräte abschalten, weder Handyklingeln noch E-Mails – für die Generation Online ein scheinbar unmögliches Unterfangen. Sie ist ständig per Telefon und Computer mit der Außenwelt verbunden, eine SMS jagt die nächste. Pausenlos werden Mails gecheckt oder das Facebook-Profil aktualisiert. Man bloggt, postet und twittert rund um die Uhr. In Amerika, wo Handyverträge die Übertragung unbegrenzter Datenmengen erlauben, kann man immer häufiger im Restaurant beobachten, wie zwei Freunde, jeder in seinen Mini-Bildschirm vertieft, virtuell miteinander kommunizieren. Aber es geht auch anders, wie der National Day of Unplugging (NDU) beweist.
Ruhe Mit dem Sonnenuntergang des 23. März begann in Amerika für viele ein Tag außergewöhnlicher Ruhe. Von der virtuellen Welt abgeschnitten, konzentrierten sich die Teilnehmer des NDU auf persönliche Begegnungen und Aktivitäten in der realen Welt. »Das ist dringend nötig«, sagt Yoav Schlesinger, Geschäftsführer der Organisation Reboot, die den NDU seit 2010 initiiert. »Der unendliche Informationsfluss in der heutigen Zeit und die Tatsache, dass ständig irgendwo ein Bildschirm flackert, können dazu führen, dass wir kaum noch in der Lage sind, auf einer tieferen Ebene zu kommunizieren und Zeit für wahre Prioritäten – Familie, Freunde, Gesundheit – aufzubringen«, sagt Schlesinger. »Das ist der Grund, warum wir ein Technologie-Entgiftungsprogramm brauchen.«
Reboot ist eine jüdische Non-Profit-Organisation mit Sitz in New York. Gegründet 2002, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die jüdischen Traditionen für die heutige Zeit lebendig zu gestalten. Zahlreiche Web-Projekte und Veranstaltungen in Großstädten fördern diese Idee.
Zum Reboot-Netzwerk gehören rund 400 Medienexperten und Kreative aus allen künstlerischen Bereichen. Sie entwickeln Kooperationen und Projekte, zum Beispiel das »Sabbath Manifesto«. Das umfasst zehn Gebote für einen modernen Schabbat. »Technologie vermeiden« ist der erste dieser Grundsätze. Daraus entstand im Jahre 2010 die Idee für den National Day of Unplugging.
Aufgerufen sind nicht nur Juden. »Millionen Menschen in der ganzen Welt haben in den vergangenen Jahren den NDU umgesetzt, egal ob katholisch, buddhistisch oder muslimisch«, sagt Schlesinger. Zwar fanden alle drei NDUs am Schabbat statt, entscheidend ist aber nach Schlesinger nicht der Zeitpunkt, sondern das Konzept. »Angehörige anderer Glaubensrichtungen können den NDU an ihre Traditionen anpassen«, so Schlesinger. »Ein Ruhetag ist ein universelles Prinzip, das im Judentum wurzelt. So ist auch der NDU eine jüdische Lösung für ein universelles Problem.«
Erfahrung Was bringt der Tag aber nun tatsächlich? »Viele Menschen, die den NDU ausprobiert haben, waren begeistert. Sie waren ausgeglichener und zufriedener und haben sich für die Erfahrung bedankt«, berichtet Schlesinger. Er selbst versucht, jeden Schabbat »den Stecker zu ziehen«, obwohl es ihm – wie so vielen anderen – schwerfällt. »Wir sind so an unmittelbare Reaktionen gewöhnt, dass es uns fast ängstigt, wenn eine SMS einen Tag unbeantwortet bleibt«, erklärt Schlesinger. »Doch es stärkt unsere persönlichen Verbindungen zu den Menschen, die uns wirklich wichtig sind.«
Einmal offline, bleiben viele Dinge zu tun. »Freunde treffen, nach draußen gehen, Fahrradfahren, ehrenamtlich tätig werden«, schlägt Schlesinger vor. In diesem Jahr stand der NDU unter dem Motto »Stecker ziehen und gemeinsam essen« – gemäß dem 8. Gebot des Sabbath Manifesto: »Brot essen«. Dies soll die Menschen ermuntern, sich mit der Familie oder Freunden an den Esstisch zu setzen, den örtlichen Markt zu besuchen oder Spenden zu sammeln. »Jeder soll das Prinzip so interpretieren, wie es am meisten Sinn für ihn macht«, sagt Schlesinger. Programmpartner von Reboot waren in diesem Jahr unter anderem die Organisationen Slow Food und Hazon.
Wie viele Menschen am diesjährigen NDU tatsächlich den Stecker gezogen haben, kann Schlesinger nur schätzen. 1.600 haben sich via Website förmlich verpflichtet, abzuschalten, »viele andere mögen ohne solches Versprechen offline gegangen sein«.
Insgesamt 125 Organisationen unterstützen den NDU als Partner mit besonderen Aktionen, darunter die Vereinigung für Reformjudentum und die Jüdischen Gemeindezentren von Amerika, aber auch örtliche Synagogen und nichtjüdische Organisationen wie TreeHugger.com. Das jüdische Gemeindezentrum in San Francisco organisierte ein spezielles Schabbatdinner, das örtliche Contemporary Jewish Museum veranstaltete einen kunsthandwerklichen Workshop und verteilte speziell gestaltete »Schlafsäcke« für Handys.
steckerziehen Auch Rabbinern gefällt die Idee des Steckerziehens. Die Gemeinde B’nai Torah in Atlanta verwies auf ihrer Homepage auf den NDU. Janet Marder, Rabbinerin im kalifornischen Los Altos Hills, machte in ihrer Gemeinde Werbung fürs Abschalten, sieht die Aktion jedoch in einem größeren Kontext: »Wir versuchen, die Einhaltung des Schabbat das ganze Jahr hindurch zu fördern«, betont sie.
Natürlich ist das Steckerziehen nicht bei allen Menschen beliebt. »Ich könnte niemals 24 Stunden auf mein Handy verzichten« – so oder ähnlich lauten Kommentare im Internet oder Reaktionen, die Schlesinger zu hören bekommt. Was ihn keineswegs entmutigt. Im Gegenteil. »Der Widerstand zeigt, wie wichtig unser Konzept ist«, sagt Schlesinger. »Gerade die Menschen, die sich dem NDU widersetzen, brauchen eine Pause, um eine andere Sicht auf ihr Leben zu bekommen.«