Schweiz

Ein später Held

1938 half der Polizeihauptmann Paul Grüninger Hunderten Juden bei der Flucht – und wurde dafür hart bestraft

von Peter Bollag  09.11.2018 15:46 Uhr

Nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst wurden ihm die Pensionsansprüche aberkannt: Paul Grüninger kurz vor seinem Tod 1972 Foto: ullstein

1938 half der Polizeihauptmann Paul Grüninger Hunderten Juden bei der Flucht – und wurde dafür hart bestraft

von Peter Bollag  09.11.2018 15:46 Uhr

Seit einem Jahr gibt es in der israelischen Großstadt Rischon LeZion eine Paul-Grüninger-Straße. Es ist die dritte Straße in Israel, die nach dem ehemaligen Schweizer Polizeihauptmann benannt wurde. Keinem anderen Bürger des Alpenlandes wird in Israel eine ähnliche Ehre zuteil. Zur Namensgebung reiste sogar der Schweizer Bundesrat Johann Schneider-Ammann an.

Auch in der Schweiz gibt es Orte, die nach dem berühmten Polizisten benannt sind, zum Beispiel ein Stadion in St. Gallen. Grüninger, der 1971 von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« anerkannt wurde, spielte in seiner Jugend leidenschaftlich gern Fußball. Mit dem SC Brühl St. Gallen wurde er 1915 Schweizer Meister, später stand er dem Verein einige Jahre als Präsident vor.

In israelischen Städten sind drei Straßen nach dem Schweizer Polizisten benannt.

In Paul Grüninger (1891–1972) spiegelt sich ein Stück Schweizer Geschichte zwischen 1938 und 1945. Bundesrat Schneider-Ammann bezeichnete es in der Zeremonie im vergangenen Jahr in Rischon LeZion als »den wohl dunkelsten Moment«. Darin zeigt sich, wie unglaublich schwer sich die Schweiz mit ihrer Haltung tat und teilweise vielleicht auch noch tut; einer Haltung, die zwischen Menschlichkeit, Gleichgültigkeit und sogar tödlicher Abweisung schwankte.

PARTEI Menschlichkeit war es, die den jungen Polizeihauptmann, der keinesfalls ein Linker war, sondern Mitglied der liberalen Freisinnig-Demokratischen Partei, 1938 und 1939 dazu brachte, den Bedrängten zu helfen. Grüninger, nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland vom März 1938 an der schweizerisch-österreichischen Grenze stationiert, war dazu durchaus in der Lage.

Er konnte darüber entscheiden, ob es den Flüchtenden gelang, die neutrale Schweiz zu erreichen. Grüninger verletzte dabei geltende Gesetze: Er fälschte Dokumente und ermöglichte damit den Flüchtlingen, die Grenzsperre der Schweiz zu umgehen. In einem Fall soll er sogar mit seinem Fahrzeug nach Deutschland gefahren sein, um Juden persönlich in die Schweiz zu bringen.

Grüninger machte aus seinem Herzen keine Mördergrube – und nahm einen klaren Standpunkt ein. Bei einer Konferenz in Bern im August 1938, an der neben den zuständigen kantonalen Polizeichefs auch andere führende Beamte teilnahmen, wurde um eine einheitliche Haltung der Schweiz in der Flüchtlingsfrage gerungen. Grüninger widersprach dem Vertreter des Ostschweizer Grenzkantons Thurgau, der zu Protokoll gab, Thurgau werde »keinen einzigen Flüchtling aufnehmen, da mag man in Bern befehlen, was man will«.

Grüninger stellte daraufhin fest: »Rückweisung der Flüchtlinge? Geht schon vom menschlichen Standpunkt aus nicht.«

Zwar argumentierte Grüninger in der Folge durchaus auch sachpolitisch: »Wenn wir zurückweisen, kommen sie trotzdem schwarz und unkontrollierbar.« Doch wird deutlich: Hier lässt ein Beamter Mitleid walten und seinen Worten Taten folgen.

Paul Grüninger musste dafür schwer büßen: Als sein Tun einige Monate später auffliegt, wird der Familienvater sofort fristlos aus dem Polizeidienst entlassen und seine Pensionsansprüche wurden ihm aberkannt. 1940 verurteilt ihn ein Gericht wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe.

REGENMÄNTEL Bis zu seinem Tod im Jahr 1972 lebte Grüninger in Armut. Eine feste Anstellung fand er nicht mehr, sondern hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten wie dem Verkauf von Regenmänteln mehr schlecht als recht über Wasser. Doch bereute er nie, dass er den Flüchtlingen geholfen hatte. Immer wieder betonte er, er würde wieder genauso handeln.

Was Paul Grüninger vermutlich aber bis zu seinem Tod mindestens so sehr bedrückt haben dürfte wie die materielle Not, ist die lange und konstante Weigerung des Kantons St. Gallen und der Schweiz insgesamt, ihn in irgendeiner Weise zu rehabilitieren.

Es gibt Gerüchte, dass Schweizer Juden Grüninger verraten haben

Hier wiederholt sich die Schweizer Geschichte, wenn auch in veränderter Form: Denn so, wie es Mitte der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts zuerst den Druck von außen brauchte, um den Juden die Gleichberechtigung in der Schweiz zu gewähren, brauchte es in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts den Druck vor allem aus den USA, damit das Alpenland sein Tun und Lassen in den Jahren 1939 bis 1945 aufarbeitete.

So kam es, dass auch die Geschichte von Paul Grüninger nochmals diskutiert wurde. Anstoß dazu gab ein Buch, das vor genau 25 Jahren in der Schweiz erschienen ist. Grüningers Fall heißt es doppeldeutig. Verfasst hat es der Ostschweizer Historiker Stefan Keller.

Nachdem es die Regierung des Kantons St. Gallen mit zum Teil fast absurden Begründungen fünfmal abgelehnt hatte, Grüninger zu rehabilitieren, brachte Kellers Buch so manches in Bewegung.

ZIVILCOURAGE 1994 gab der Bundesrat eine Ehrenerklärung für Grüninger ab, 1998 wurden die Nachkommen des Polizeihauptmanns mit 1,3 Millionen Franken entschädigt. Das Geld floss in die »Paul-Grüninger-Stiftung«, die sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt. Bis Paul Grüninger aber zum Schweizer Symbol von Menschlichkeit und Zivilcourage wurde, dauerte es noch eine Zeit.

Dies gilt auch für die jüdische Gemeinschaft des Landes. Lange unterließ es der Schweizerische Israelitische Gemeindebund als jüdische Dachorganisation, sich für den ehemaligen St. Galler Polizisten einzusetzen.

Bis heute halten sich Gerüchte, es seien jüdische Kreise gewesen, die Grüninger verraten haben. Zahlreiche Schweizer Juden fürchteten damals, wenn zu viele jüdische Flüchtlinge ins Land kämen, würde der Antisemitismus zunehmen. Aus dem Schicksal des Paul Grüninger musste also auch die jüdische Gemeinschaft Lehren ziehen – und das bis heute.

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