Herr Rabbiner, Sie sind Vorsitzender der European Rabbinical Assembly (ERA). Was verbirgt sich hinter dem Namen dieser neuen Vereinigung?
Wir sind der Verband liberaler, progressiver und Reformrabbiner in Europa. Grundsätzlich könnten auch konservative Rabbiner bei uns Mitglied werden, aber wir haben bisher noch keine Anfrage erhalten.
Wie viele Mitglieder hat Ihr Verband?
Zurzeit sind es um die 60. Aber es gibt in Europa insgesamt etwa 220 Kollegen, die Mitglied werden können. Ich gehe also fest davon aus, dass wir in Zukunft noch mehr werden.
Wie kam es zu dem Zusammenschluss?
Schon seit Langem gibt es die European Union for Progressive Judaism, den Dachverband der liberalen, progressiven und Reformgemeinden in Europa. Ein solcher Verband für die Rabbiner fehlte jedoch bisher. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Situationen, in denen es gut gewesen wäre, wenn man in Europa eine progressive rabbinische Stimme gehört hätte. Doch in dieser vereinten Form fehlte sie. Das zu ändern, war eines unserer zentralen Anliegen.
Welche Ziele verfolgen Sie?
Wir möchten die Kollegen in Ländern, in denen es keine lokalen Rabbinerorganisationen gibt, unterstützen. Und wir wollen als Rabbiner konzertiert auf das reagieren können, was in Europa geschieht, wie die Beschneidungsdebatte vor einigen Jahren oder die immer wieder aufflammende Kritik am Schächten.
Vor welchen Herausforderungen steht das liberale Judentum in Europa?
Vor allem in Osteuropa haben die Schoa und danach der Kommunismus das Judentum fast völlig zerstört. In den vergangenen 20, 25 Jahren sind dort viele liberale Gemeinden neu entstanden. Wir müssen daran arbeiten, sie zu stabilisieren. Ähnliches gilt auch für Italien, Spanien und Portugal, wo wir ebenfalls seit Jahren aktiv sind. Das liberale Judentum ist für viele der Weg, den sie gehen wollen. Ich glaube, in dieser Hinsicht müssen wir uns noch besser profilieren.
Wo sehen Sie das liberale Judentum in Europa in 20 Jahren?
Ich wünsche mir, dass es wieder die Position einnimmt, die es vor der Schoa hatte. Damals war es eine führende Strömung des Judentums in Europa. Ich bin davon überzeugt, dass wir quantitativ wachsen werden. Auch wenn unser Anteil zahlenmäßig gering sein mag, ist es unentbehrlich für das Weiterbestehen des Judentums in Europa, dass es eine gute und gesunde liberale jüdische Bewegung gibt.
Und wie sind Ihre Kontakte zu den Kollegen von der orthodoxen Europäischen Rabbinerkonferenz (CER)?
Es besteht noch kein Kontakt, aber wir sind offen dafür. Es gibt ein paar inoffizielle Versuche, ihn herzustellen.
Mit dem Vorsitzenden der European Rabbinical Assembly und Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich sprach Tobias Kühn.