April 1939. Vor der Tür steht die Polizei und wird den schmalen Mann mit dem Kneifer gleich zum Verhör mit aufs Revier nehmen. Doch bevor er vor den Augen seiner Frau abgeführt wird, muss er einem weiteren Beamten seine Polizeiuniform übergeben – ein demütigender Augenblick für den Mann, der bislang Polizeichef des Schweizer Kantons St. Gallen war.
Die Szene leitet das bittere Ende des neuen Schweizer Films Akte Grüninger – die Geschichte eines Grenzgängers von Alain Gsponer ein. Der Streifen, der bei den Solothurner Filmtagen Ende Januar uraufgeführt wurde, ist das vorläufig letzte Teilchen des Geschichtspuzzles zur Rolle des Alpenlandes im Zweiten Weltkrieg. Er hat in der Schweiz eine neuerliche Diskussion über den Umgang der Behörden mit jüdischen Flüchtlingen ausgelöst.
Akte Grüninger bringt keine neuen historischen Fakten ans Tageslicht. Aber er schildert einen menschlichen Grundkonflikt: Wem soll ein Beamter folgen, wenn er mit menschlichem Leid konfrontiert ist, aber von Amts wegen hart bleiben muss: seinem Gewissen oder seiner beruflichen Pflicht? Grüninger, sowohl der echte als auch der im Film (gespielt von dem in Berlin lebenden Schweizer Schauspieler Stefan Kurt), entscheidet sich für das Gewissen – und ermöglicht rund 3000 jüdischen Flüchtlingen die illegale Einreise in die Schweiz. Die Berner Regierung hatte im August 1938 nach dem »Anschluss« Österreichs eine Grenzsperre erlassen. Der Film zeigt die historische Konferenz, bei der die kantonalen Polizeidirektoren unter Vorsitz des Eidgenössischen Polizeichefs Heinrich Rothmund die Umsetzung des Erlasses beschlossen. Der Einzige, der widersprach, war Paul Grüninger.
»J-Stempel« Rothmund tritt nach der Konferenz vor die wartende Presse und verkündet: Um religiöse von »echten« Flüchtlingen zu unterscheiden, habe man die deutschen Behörden gebeten, die Pässe von Juden zu kennzeichnen – die Geburtsstunde des »J-Stempels«. Viel wichtiger ist dem Film-Rothmund aber offenbar etwas anderes: »Bitte, jetzt ein Foto«, sagt er und bringt sich entsprechend in Positur.
In solchen Momenten stößt Akte Grüninger vielleicht ein wenig an die Grenzen dessen, was ein Spielfilm über historische Ereignisse leisten kann. Rothmund war von 1929 bis 1954 Schweizer Polizeichef. Seine Rolle bei der Rückweisung jüdischer Flüchtlinge an der Grenze ist bis heute in der Geschichtsschreibung umstritten, ebenso, inwieweit er tatsächlich am »J-Stempel« mitbeteiligt war. Dass er vor einer »möglichen Verjudung« der Schweiz warnte und darum alles daran setzte, nicht zu viele Flüchtlinge ins Land zu lassen, ist unbestritten.
Das Schweizer Magazin »Weltwoche« wirft dem Film Geschichtsklitterung vor und moniert, Rothmund werde als der klassische »Film-Bösewicht« dargestellt. Dieser Kritik wird von Historikern vehement widersprochen. Grüninger bleibe trotz gewisser Fragen, zum Beispiel zum Motiv seines Handelns, ein Vorbild für die Schweiz.
Flüchtlinge Rothmund schickt in Akte Grüninger einen Bundesbeamten namens Frei (die einzig erfundene Figur im Film) an die Ostgrenze der Schweiz, um die Vorgänge dort genau klären zu lassen. Freis Dialoge mit Grüninger gehören zum Besten, was der Streifen zu bieten hat. Der Bundesbeamte kommt dem Kantonsbeamten schnell auf die Schliche: Grüninger datiert die Einreisevisa vor die Zeit der Grenzsperre und macht auf diese Weise mit einem Federstrich aus illegalen legale Flüchtlinge. Frei spricht Grüninger auf dessen Pflicht als Beamter an, worauf dieser sinngemäß antwortet: »Wissen Sie denn nicht, was im Reich los ist – oder kümmert es Sie einfach nicht?«
Noch intensiver im Film sind Grüningers Gespräche mit dem jüdischen Flüchtlingshelfer Sidney Dreifuss (gespielt von Anatol Taubman, der selbst Verwandte in der Schoa verlor). Dreifuss war der Vater der späteren ersten jüdischen Bundesrätin Ruth Dreifuss. Er steht für die Haltung der Schweizer Juden, die zwar solidarisch mit ihren Glaubensgenossen waren, gleichzeitig aber Angst hatten, dass zu viele jüdische Flüchtlinge den grassierenden Antisemitismus im Land noch verstärken könnten.
Verhaftung Der Film endet mit einem Kameraschwenk auf die verlassene Unterkunft der jüdischen Flüchtlinge: Nach der Verhaftung Grüningers ist auch das Schicksal seiner Schutzbefohlenen offen, suggeriert der Streifen. Offen wie die Rolle der Schweiz als neutraler Hort der Humanität – die Diskussion darüber wird bis heute geführt.
Das weitere Schicksal von Paul Grüninger, der sich nach seiner Entlassung jahrzehntelang durchschlagen musste und seine Rehabilitierung 1995 nicht mehr erlebte, blendet der Film aus. Die Darstellung der dramatischen Ereignisse zwischen August 1938 und April 1939 ist jedoch spannend genug.