Linda Heuman ist Mitarbeiterin beim amerikanischen Buddhismus-Magazin »Tricycle«. An der Brown University im Bundesstaat Rhode Island befasst sie sich mit dem Thema Religion. Vor wenigen Monaten hat Heuman die deutsche Staatsangehörigkeit erworben.
Es ging dabei um ihre Familiengeschichte und um Verfolgung. Lindas Vater Rolf Heumann ist jüdisch, zusammen mit seiner Schwester Lotte gelangte er im Januar 1939 mit einem Kindertransport von Bielefeld nach Holland und später mit seinen Eltern in die USA. Rolfs Großvater Samuel Heumann wurde mit seinem Sohn Rudolf und Schwiegertochter Regina im April 1943 nach Sobibor verschleppt und ermordet.
Grundgesetz Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 116, ist eindeutig: »Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wiedereinzubürgern.«
Das Antragsformular umfasst zwei Seiten. Gefragt wird unter anderem nach dem letzten Wohnsitz in Deutschland, vorgelegt werden müssen Geburts- und Heiratsurkunden sowie sonstige Dokumente, »aus denen die frühere deutsche Staatsangehörigkeit und der jüdische Glaube hervorgehen«, so das Merkblatt des Bundesverwaltungsamts.
Jüdische Amerikaner haben lange Zeit nur begrenzt von dieser Regelung Gebrauch gemacht. Seit Donald Trumps Wahlsieg wächst das Interesse. Schätzungsweise drei Viertel der jüdischen Wähler haben für Hillary Clinton gestimmt. Trump weckt bei vielen offenbar Ängste. Er hetzt gegen »andere«, antisemitische Vorfälle nehmen zu.
Das jüdische Interesse an der deutschen Staatsbürgerschaft stößt auf ein starkes Medienecho. Offenbar fasziniert der Trend. Die Deutsche Welle berichtete jüngst unter Berufung auf das deutsche Konsulat in New York, die Zahl der Antragsteller in der Stadt habe 2014 und 2015 noch rund 60 pro Jahr betragen – doch allein im November 2016, dem Monat, in dem Trump zum Präsidenten gewählt wurde, beantragten 124 Amerikaner den deutschen Pass, und im März 2017 waren es gar 235.
Rechtsbeistand Der New Yorker Anwalt David Young befasst sich mit manchen dieser Anträge. Vor Trump seien in seiner Kanzlei Anfragen um Rechtsbeistand zur Wiedereinbürgerung selten gewesen. Doch allein im Juni habe er acht Anrufe erhalten. Mandanten, die über ihre Beweggründe sprechen, erwähnten geradezu einstimmig Donald Trump. Das sei anscheinend auch eine Frage der Generation, sagt Young.
Joshua Dahlerbruch, Student in Philadelphia, kennt diese Problemlage. Sein 82-jähriger Großvater Stefan sei absolut dagegen gewesen. »Mein Beileid«, habe er kondoliert, als der Enkel von seinem Plan erzählte, den deutschen Pass zu beantragen. Der Großvater musste 1938 als Kind mit seinen Eltern aus Deutschland fliehen und wanderte in die USA aus.
Joshua, politisch links stehend, begann mit der Antragstellung während des Präsidentschaftswahlkampfs. »Ich dachte niemals, dass Trump gewinnen würde«, sagt der junge Mann, doch »Teil meiner jüdischen Erziehung war die Lehre, dass man immer einen Notplan haben sollte«.
Die Republikaner seien jetzt »die durchgedrehte Partei«, und, ganz praktisch, mit dem deutschen Pass könne er in ganz Europa studieren. Er habe seinen Antrag im August 2016 gestellt und die Staatsbürgerschaft vier Wochen später bekommen. Linda Heuman sagt, Trumps Wahlsieg sei der Auslöser für ihren Antrag gewesen, und der in seinem Wahlkampf zutage tretende Hass. »Das war nicht unbedingt logisch, doch ich musste einen Ort finden, wohin ich notfalls gehen konnte.«
einbürgerung Im Konsulat in Boston habe sie den Antrag gestellt. Etwas seltsam sei das schon gewesen, sagt sie. Während sie die Geschichte ihrer Familie erzählte, stand am Schalter neben ihr jemand, »der einfach nur einen neuen Pass brauchte«. Einige Wochen später veranstaltete das Konsulat eine würdige Feier zur Übergabe der Einbürgerungsurkunde. Für Heuman schloss sich damit ein Kreis zum Leben ihres Vaters.
Über Deutschland habe man in ihrem Elternhaus kaum gesprochen, sagt sie. Sie wusste, »dass er aus Deutschland kam und dass da irgendetwas war«. Wenn ihr Vater andeutungsweise etwas darüber sagte, dann »ohne Emotionen«, so, als ob das alles »no big deal« gewesen sei. Heute vermutet sie, dass der Vater nichts gesagt hat, weil die Erinnerungen traumatisch waren.
Heuman wuchs in Amerika als Methodistin auf. Ihre Mutter sei Methodistin gewesen, und so sei ihr Vater dann eben auch zur Kirche gegangen.
Familiengeschichte Karen Sime ist Insektenforscherin an der State University of New York. Vor gut zwei Jahren brachte ihre Mutter Ruth Lewin Sime sie auf die Idee, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ihre Familie sei »irgendwie sehr deutsch«, erzählt Karen. Sie selbst studierte 2001 in Jena.
Nach Trumps Wahlsieg schrieb Sime einen Teil ihrer Familiengeschichte in einem Blog nieder: »Ich schreibe als Nachfahrin von Flüchtlingen.« Ihre Großmutter Gerda Bruno stammte aus Hamburg und kam 1934 in die USA. Sie hatte Medizin studiert. Doch für eine jüdische Frauenärztin gab es in Deutschland keine Perspektive. Also wanderte die junge Frau aus.
Drei Jahre später, 1937, reiste sie nach Hamburg zurück, um ihre Verwandten dazu zu bewegen, Deutschland zu verlassen. Das sei schwierig gewesen, besonders für ältere Menschen. Anders als in Amerika bekamen sie in Deutschland eine Rente, ihre Angehörigen waren Deutsche, und Hamburg war ihre Heimat.
yad vashem Gerda Brunos Mutter Frieda und deren Schwester Ilse folgten ihr nach New York, ihre Tante Harriet Peyser nicht. In der Jerusalemer Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem erfuhr Sime von Harriets Schicksal: Sie wurde im Dezember 1941 mit Hunderten Hamburger Juden in das Lager Jungfernhof in der Nähe von Riga deportiert und, vermutlich kurz nach ihrer Ankunft, ermordet.
Dass Amerikaner, die dieser Tage einen deutschen Pass beantragen, tatsächlich auswandern wollen, hört man kaum. Sie könne sehr wohl unterscheiden zwischen »wirklicher Verfolgung und dem Gefühl, verfolgt zu werden«, sagt Sime. Mit dem Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft ehre sie ihre Großeltern. Sollte der Antrag und der ihrer Kinder bewilligt werden, hätten sie jetzt einen Notfallplan. Das beruhigt.