»Lutetia«

Ein Ort der zweiten Geburt

Wie er am 25. Juni 1945 an den Boulevard Raspail kam, daran erinnert sich Jacques Saurel nicht mehr. War er vom Pariser Gare de l’Est aus mit dem Bus oder dem Taxi gefahren?

Das Gedächtnis des heute 86-Jährigen setzt erst wieder ein, als er in der Halle des Luxushotels »Lutetia« mit seinem eleganten Marmorfußboden steht. Dort endet für ihn ein Albtraum, der 16 Monate vorher mit seiner Deportation ins Konzentrationslager Bergen-Belsen begonnen hatte.

Kindheit Saurel war erst elf Jahre alt, als er zusammen mit seiner Mutter und zwei seiner Geschwister festgenommen wurde, weil er Jude war. Wie durch ein Wunder überlebte die Familie. »Aber meine Kindheit war vorbei«, sagt der weißhaarige Mann mit der randlosen Brille.

Als er im Sommer 1945 vor dem Hotel Lutetia ankommt, stehen dort Hunderte Angehörige, die auf die Rückkehrer aus den Konzentrationslagern warten. Sie halten Fotos in der Hand, die die Deportierten in einem früheren, glücklichen Leben zeigen. Ganze Wände hängen voll mit Bildern der Gesuchten. »Doch wie sollten wir diejenigen wiedererkennen, die inzwischen bis aufs Skelett abgemagert waren?«, fragt sich Saurel noch heute.

Den Franzosen wird das ganze Ausmaß des Nazi-Terrors erst deutlich, als sie die ersten Busse mit den völlig ausgemergelten Gestalten in ihren KZ-Anzügen vor dem Hotel Lutetia ankommen sehen. »Gespenster mit blauen und weißen Streifen, grünliche Skelette, die mit dem Tod kämpfen, die Augen eingemauert im Grund des Unaussprechlichen, nur durch ein Wunder der Apokalypse entkommen«, beschreibt der Dichter Pierre Seghers die Rückkehrer.

WIEDERSEHEN Auch Jacques Saurel gehörte zu jenen Gespenstern. Nach Kriegsende hatte er eine Typhuserkrankung nur mühsam überstanden. Und doch erkannte ihn sein Vater, der ihn fünf Jahre nicht gesehen hatte. Wochenlang war Henri Szwarcenberg jeden Tag in das Hotel gegangen, in der Hoffnung, seine Familie wiederzufinden. Er selbst war schon 1940 als Freiwilliger der Fremdenlegion in Kriegsgefangenschaft geraten und Ende März 1945 nach Frankreich zurückgekehrt. Der Moment des Wiedersehens ist leise. »Wir haben nicht viel gesprochen, sondern uns einfach nur umarmt«, erinnert sich der Sohn, der seinen Nachnamen in den 60er-Jahren von Szwarcenberg in Saurel ändert.

Das neue Leben in Luxus beginnen zu lassen, war ein bewusstes Signal der Pariser Stadtverwaltung.

Es ist die Zeit, in der er sich als Sohn polnischer Einwanderer in Frankreich anpasst und nicht über den Horror spricht, den er im Konzentrationslager erlebte. Erst mehr als 50 Jahre später bricht Saurel nach einem Besuch im ehemaligen KZ Bergen-Belsen das Schweigen. In einem Buch schildert er seine Deportation mit ihrem glücklichen Ende im Lutetia. »Ich erlebte dort meine zweite Geburt«, sagt der zweifache Vater und Großvater. »Seither erlebe ich jede Minute als Geschenk.«

VERLUST Für viele Zehntausend andere Angehörige ist das Hotel aber Synonym für einen Verlust, der sich dort grausam bestätigt. Von den insgesamt 72.000 Juden, die wie Saurel aus Frankreich deportiert wurden, kamen nur 2.600 zurück.

An die dramatischen Szenen, die sich in jener Zeit im Lutetia abspielten, erinnert auf der geschwungenen Jugendstil-Fassade heute nur noch eine Steinplatte. »Von April bis August 1945 wurde in diesem Hotel der Großteil der den Konzentrationslagern Entkommenen aufgenommen, die glücklich waren, ihre Freiheit und ihre Lieben wiederzufinden, denen sie entrissen worden waren«, steht darauf. »Ihre Freude konnte die Angst und den Schmerz der Familien von Tausenden Verschwundenen nicht auslöschen, die vergeblich auf die Rückkehr ihrer Angehörigen warteten.«

Die Plakette aus dem Jahr 1985 hängt nach der vierjährigen Renovierung des Fünf-Sterne-Hauses, das inzwischen der israelischen Alrov-Gruppe gehört, wieder an der Fassade. Das Zeugnis aus Stein ist die einzige Erinnerung an die tragischen Wochen des Jahres 1945. »Ich habe dem Chef an seine Privatadresse geschrieben, wie er mit der Erinnerung an die Rückkehr der Deportierten umgehen will, aber keine Antwort erhalten«, berichtet Catherine Breton, die Vorsitzende der Pariser Vereinigung zur Erinnerung an die Deportation (AFMD 75), selbst Tochter von Deportierten. Seit 2015 zieht die engagierte frühere Ergotherapeutin mit einer Ausstellung über das Hotel Lutetia durch Frankreich. An mehr als 40 Orten wurde Lutetia 1945 – die Rückkehr der Deportierten schon gezeigt.

schriftsteller Die erschreckenden Szenen auf den 15 Schautafeln sind heute in der schicken Eingangshalle nicht mehr vorstellbar. Inzwischen übernachtet eine reiche internationale Kundschaft in der Nummer 45 des Boulevard Raspail und zahlt dafür auch schon mal mehr als 800 Euro pro Nacht. »Es gibt Leute, die diese Geschichte auslöschen wollen«, sagt Jacques Saurel bitter.

Das Essen zum Sonderpreis für die ehemaligen Deportierten, die jahrzehntelang an jedem ersten Donnerstag im Monat einen Tisch im Lutetia hatten, wurde bereits vor Jahren abgeschafft. Lieber knüpft der »Palast« an die mondänen Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg an: Pablo Picasso, Antoine de Saint-Exupéry und Ernest Hemingway logierten in dem Fünf-Sterne-Haus am Rive Gauche, dem linken Seineufer.

Auch Charles de Gaulle war häufiger Gast im Lutetia, wo er sogar seine Hochzeitsnacht verbracht haben soll. Wohl deshalb entscheidet er sich im April 1945, das Gebäude mit seinen sieben Etagen und 350 Zimmern zu beschlagnahmen, um dort unter Federführung des Roten Kreuzes die Rückkehrer aus den Konzentrationslagern aufzunehmen. Der spätere Präsident erkennt unter dem Eindruck der ersten Horrorfotos aus dem befreiten KZ Auschwitz, dass die wenigen Überlebenden unter den insgesamt 166.000 aus Frankreich Deportierten eine besondere Betreuung brauchen. Die elegante Schlichtheit des Lutetia scheint ihm für die völlig entkräfteten KZ-Insassen geeignet, die aus den Bussen vor dem Hoteleingang steigen.

Vor dem Krieg logierten Picasso, Saint-Exupéry und Hemingway in dem Fünf-Sterne-Haus.

»Genau da stand ich, als mein Vater auf mich zukam«, sagt Christiane Umido. Die 88-Jährige beugt sich über eine historische Aufnahme des Lutetia und zeigt mit dem Finger auf einen kleinen Park gegenüber dem Luxushotel. Für sie ist der 8. Juni 1945 der Tag des Wiedersehens. Im Radio hört sie wie jeden Morgen die Namen der Deportierten, die aus den Konzentrationslagern zurückkommen und im Lutetia aufgenommen werden. Und ausgerechnet an ihrem 14. Geburtstag ist auch der Name ihres Vaters dabei.

Claude Umido war zusammen mit seiner Frau im Januar 1943 als Widerstandskämpfer im von den Nazis besetzten Paris festgenommen und dann ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. »Er hatte andere Widerstandskämpfer versteckt, die von der französischen Polizei gesucht wurden«, erinnert sich seine Tochter.

BRIEF In einer Schachtel bewahrt Christiane Umido den Brief auf, den er ihr aus dem Konzentrationslager schickte. Einfache Worte, von einem Unbekannten auf Deutsch verfasst, um zu sagen, dass es ihrem Vater gut geht. Auch ein Schwarz-Weiß-Foto mit ihren Eltern gehört zu den Erinnerungsstücken, die die sanfte, grauhaarige Frau in ihrer Wohnung nahe dem Pariser Invalidendom hütet.

Die kleine Christiane schmiegt sich darauf an den Vater, die Mutter sitzt lächelnd daneben. Joséphine Umido starb im März 1945 im Vernichtungslager Auschwitz. »Wir haben mit meinem Vater nach seiner Rückkehr nie mehr über meine Mutter geredet.«

Claude Umido ist krank und abgemagert, als er im Hotel Lutetia ankommt. Wie alle Deportierten wird er ärztlich untersucht und mit DDT besprüht, um das Ungeziefer auf seinem Körper zu vernichten. Außerdem muss er sich wie alle Deportierten einer ermüdenden Befragung unterziehen, um die Betrüger aus den Reihen der SS aufzuspüren, die sich unter die Überlebenden geschmuggelt haben.

Trotz der Bürokratie schätzen die meisten Überlebenden die Entscheidung, ihr neues Leben in einem Luxushotel beginnen zu lassen. »Nichts ist zu schön, zu gut, zu sauber, zu gut gekocht, luxuriös, teuer oder perfekt für diejenigen, die aus ihren Familien gerissen wurden und die monate-, manchmal jahrelang alles entbehren mussten. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich bei einer öffentlichen Verwaltung so etwas wie Liebe gespürt«, schreibt die Widerstandskämpferin Jacqueline Mesnil-Amar über das Lutetia. Rund 20.000 Deportierte wie sie kehren durch diese Schleuse von der Totenwelt wieder zu den Lebenden zurück. Im Mai 1945 treffen täglich mehr als 500 Rückkehrer ein.

Marguerite Duras fand hier ihren Mann wieder, Juliette Gréco ihre Mutter und Schwester.

Auf jeder Etage wachen ein Arzt und Krankenschwestern über die zerbrechliche Gesundheit der Neuankömmlinge. Chefarzt Toussaint Gallet ist selbst ein ehemaliger Deportierter, der sich in den Krankenhäusern Schwestern zur Betreuung der Ankömmlinge sucht. Innerhalb von wenigen Stunden melden sich dreimal so viele, wie eigentlich gebraucht werden. Freiwillige von den Pfadfindern, Quäkern und der Heilsarmee bedienen die Rückkehrer, übernehmen den Empfang, Anrufe und Fahrdienste.

Der spätere sozialistische Regierungschef Michel Rocard ist einer von ihnen. »Einige konnten nicht einmal mehr sprechen«, erinnert sich der Politiker kurz vor seinem Tod in dem Dokumentarfilm Lutetia, der parallel zur Ausstellung der AFMD 75 entsteht. »Sie waren in Schweigen und Traurigkeit versunken. Das war ein Anblick, der einen ein ganzes Leben lang prägt.« In jenen erschütternden Tagen entscheidet sich Rocard mit gerade einmal 15 Jahren, später in die Politik zu gehen.

WENDEPUNKT Auch für andere Prominente ist das Lutetia ein Wendepunkt ihres Lebens. Zum Beispiel für die Schriftstellerin Marguerite Duras, die dort ihren Mann wiederfindet, oder die kürzlich verstorbene Sängerin Juliette Gréco. »Dieser Ort ist heilig, denn er hat mit das wiedergegeben, was mir am teuersten war. Ich habe dort meine Mutter und meine Schwester wiedergefunden, die die Lager überlebten. All diese Gesichter zu sehen, die wie ich die ihren suchten, ist gleichzeitig Glück und die Verkörperung des Unglücks«, sagte Gréco 2009 dem »Journal du Dimanche«. »Wir kamen jeden Tag in der Hoffnung, unsere Angehörigen wiederzufinden, ein bisschen wie das Strandgut des Meeres.«

Die Deportierten beziehen die Zimmer, die während des Krieges die Mitglieder der deutschen »Abwehr«, des militärischen Geheimdienstes, bewohnten. Im Keller des Hotels folterten sie die französischen Widerstandskämpfer. »Heute sind es ihre Opfer, die in den Luxuszimmern und den herrschaftlichen Salons die ›grauen Mäuse‹ und ihre arroganten Diener ersetzen«, heißt es in einem Zeitungsartikel aus dem Frühjahr 1945.

Knapp 600 Menschen, darunter das Hotelpersonal, kümmern sich zwischen April und Ende August 1945 rund um die Uhr um die Ankömmlinge. Die Deportierten bekommen Kleidung und Nahrung sowie neue Papiere und ein Metro-Ticket. »Ohne diesen Empfang wären wir verloren gewesen«, bemerkt Roger Biéron, ein ehemaliger Widerstandskämpfer. Er erinnert sich noch gut an das Bett, das ihn im Hotel erwartete: »Als ich die weißen Laken sah, wusste ich, dass sich mein Leben verändert hatte.«

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