USA

Ein Leben für die Gerechtigkeit

Ruth Bader Ginsburg sel. A. (1933–2020) Foto: imago images/UPI Photo

Wenn Ruth Bader Ginsburg in ihrem Bürosessel in Washington saß und über einem ihrer legendären Gutachten brütete, dann wurde sie unweigerlich an ihre jüdische Herkunft erinnert. An der Wand ihres Büros hing nämlich seit ihrem Amtsantritt als Oberste Bundesrichterin vor 27 Jahren ein Gebot aus dem 5. Buch Mose in hebräischen Lettern: »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du nachjagen.«

Als Bader Ginsburg, die am vergangenen Freitag, dem Vorabend von Rosch Haschana, im Alter von 87 Jahren ihrem Krebsleiden erlag, vor einigen Jahren am United States Holocaust Memorial Museum in Washington zu Jom Haschoa eine Rede hielt, erklärte sie, was dieses Gebot für sie bedeutet. »Wir dürfen nie vergessen, dass Hitlers Europa nicht gesetzlos war«, sagte sie damals. »Es war ein Reich voller Gesetze, gemacht von hochgebildeten Menschen, um Unterdrückung, Sklaverei und Massenmord zu rechtfertigen.«

Rechtsstaat Für Ruth Bader Ginsburg, deren Verlust zu diesem Zeitpunkt viele in den USA als Schlag für den Rechtsstaat sehen, war die allgegenwärtige Kluft zwischen den Buchstaben des Gesetzes und einer Gerechtigkeit im höheren Sinn Motor ihres Wirkens. Aufgeschriebenes Recht, dessen war Ginsburg sich stets gewärtig, ist nichts wert, wenn es nicht von rechtschaffenen Menschen verteidigt und mit Leben gefüllt wird.


Ihr Leitmotiv entnahm sie der Tora: »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst
du nachjagen.«

Ruth Bader Ginsburgs Lebenswerk als Juristin, aber auch als Feministin und Bürgerrechts-Ikone, war von dem Bestreben geprägt, die ewig klaffende Lücke zwischen der amerikanischen Verfassung und der amerikanischen Lebenswirklichkeit zu schließen.

Seit sie mit einem Prädikats-Diplom von Harvard als junge Anwältin keine Anstellung fand, kämpfte Ruth Bader Ginsburg dafür, dass der 14. US-Verfassungszusatz, der gleichen Schutz vor dem Gesetz garantiert, auch auf Frauen konsequent Anwendung findet.

schicksal Prägend war dabei für sie das Schicksal ihrer Mutter. Als Bader Ginsburg 1993 ihre Berufungsurkunde zum Obersten Bundesgericht von dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton entgegennahm, sagte sie in ihrer Rede: »Ich bete darum, dass ich all das sein kann, was sie gewesen wäre, hätte sie in einer Zeit gelebt, in der Frauen aufstreben und Erfolg haben können und Töchter genauso geschätzt werden wie Söhne.«

Bader Ginsburgs Mutter Celia Bader, Tochter russischer Einwanderer, war eine überaus begabte Schülerin, sie machte mit 15 Jahren ihren Gymnasialabschluss. Doch ihre Familie konnte es sich nicht leisten, alle Kinder studieren zu lassen, und man entschied sich für ihren Bruder. Celia Ginsburg, die ihr Leben lang als Buchhalterin im New Yorker Textilgewerbe arbeitete, kanalisierte jedoch ihren Ehrgeiz in die Ausbildung ihrer Tochter. So wurde Ruth Bader Ginsburg eine von nur neun Frauen unter 500 Studenten an der juristischen Fakultät von Harvard.

Dort lernte sie ihren späteren Mann Martin Ginsburg kennen, mit dem sie eine für die 50er-Jahre überaus progressive Ehe führte. Als Martin Ginsburg während des Studiums schwer erkrankte, half sie ihm, das Examen zu bestehen, und kümmerte sich gleichzeitig um die gemeinsame Tochter. Im Gegenzug unterstützte Martin Ginsburg stets die Karriere seiner Frau. Als sie 1980 an ein Bundesgericht in Washington berufen wurde, gab er ohne zu zögern seinen lukrativen Job in New York auf.

Gleichstellung Nachdem Ruth Bader Ginsburg bei keiner der großen New Yorker Rechtsanwaltsfirmen eine Anstellung bekam, begann sie, an der Universität Jura zu unterrichten und Pro-bono-Fälle für die Bürgerrechtsorganisation ACLU zu übernehmen. Dabei brachte sie sechs Fälle vor das Oberste Bundesgericht, in dem sie später selbst sitzen sollte. In allen Fällen ging es um die Gleichstellung der Geschlechter, die sie, wie sie einmal sagen sollte, »Urteil um Urteil« erstreiten wollte. Ruth Bader Ginsburg sah ihre Rolle darin, vor Gericht Mentalitäten zu ändern und damit nach und nach den Boden für gesellschaftlichen Wandel zu bereiten.

In der Auswahl ihrer Fälle war Bader Ginsburg geschickt. So vertrat sie beispielsweise Männer, die als Witwer keine Sozialhilfe bekamen, um ihre Kinder großzuziehen. Oder sie klagte dagegen, dass in bestimmten Staaten Frauen schon mit 16, Männer jedoch erst mit 21 Alkohol trinken dürfen. So zeigte sie die Ungleichheit in der Rechtsprechung auf eine Art und Weise, die für ihre konservativen Kritiker verdaulich war.

Für ihren Gradualismus trug sie sich mitunter den Zorn der politischen Frauenbewegung ein. So wurde sie hart angegangen, als sie das Bundesgerichtsurteil von 1973, das die Abtreibung legalisierte, als zu radikal bezeichnete. Ginsburg meinte, die Gesellschaft und die Rechtsprechung seien dafür nicht reif, und das Urteil würde nur die Gegnerschaft mobilisieren.

KONSENS Bill Clinton hingegen, der selbst als Brückenbauer zwischen amerikanischen Konservativen und Liberalen galt, gefiel ihr Stil. Er benannte Ruth Bader Ginsburg nicht zuletzt, weil er hoffte, sie könne im höchsten juristischen Gremium des Landes Konsens stiften.

Die Taktik ging auf, Bader Ginsburg etablierte sich als von allen Seiten respektierte Autorität im Obersten Bundesgericht. Ihre Freundschaft mit dem konservativen Richter Antonin Scalia wurde ein Symbol dafür, dass Amerika politische Meinungsverschiedenheiten aushalten kann.

In den letzten Jahren wurde sie zu einem Bollwerk gegen Trumps Rechtspopulismus.

Je konservativer das Gericht über die Jahre wurde, desto bissiger wurde jedoch auch Ruth Bader Ginsburg. In den letzten Jahren ihres Lebens wurden ihre Dissens-Gutachten zu konservativen Mehrheitsbeschlüssen unter einer neuen Generation von Jurastudenten Kult und führten zu einer unverhofften Popularitätswelle für »RBG«.

In den Trump-Jahren wandelte sich Bader Ginsburgs Rolle dann noch einmal dramatisch. Die zerbrechliche kleine Frau mit ihren festen Überzeugungen und ihrer bestimmten Stimme in Sprache und Schrift wurde zu einem wichtigen Bollwerk gegen den von Trump entfachten Rechtspopulismus. Sowohl ihre liberalen Überzeugungen als auch ihr fester Glaube an die demokratischen Institutionen der USA wurden zum Symbol der Hoffnung.

So wurden entscheidende Niederlagen Trumps vor dem Obersten Bundesgericht, wie etwa die Urteile zum Einwanderungsrecht und zur Diskriminierung von LGBTQ-Personen im vergangenen Sommer, nicht zuletzt ihrem Wirken zugeschrieben. Ruth Bader Ginsburg kämpfte bis zuletzt dafür, dass der Text der amerikanischen Verfassung seine breitestmögliche Anwendung findet. Und so ist ihr Scheiden zu diesem Zeitpunkt eine amerikanische Tragödie.

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