Diese Arztpraxis unterscheidet sich kaum von unzähligen ihrer Art in der ganzen Welt: Am Eingang liegt Spielzeug für die kranken Kinder, und es gibt viele Sitzgelegenheiten für die kleinen Patienten und ihre erwachsenen Begleiter.
Die freundliche Sprechstundenhilfe am Empfang bestätigt einem Anrufer am Telefon, »der Herr Doktor« sei heute da, aber am Mittag müsse er im Kinderspital sein.
»Der Herr Doktor«, das ist der 89-jährige Willy Krauthammer, der älteste praktizierende Kinderarzt der Schweiz und vermutlich einer der dienstältesten in ganz Europa. Sein freundliches und einnehmendes Wesen führt auch viele jüdische Patienten in die Praxis im Zürcher Enge-Quartier, wie den kleinen Kippa tragenden Jungen, der in einer Ecke spielt und mit seiner Mutter gekommen ist, einer religiös gekleideten Frau.
Sehr früh spezialisierte sich Krauthammer auf Kinderneurologie.
Nachfolgerin »Selbstverständlich trete ich mit zunehmendem Alter etwas kürzer und bin deshalb auch nicht mehr jeden Tag hier«, sagt Willy Krauthammer lächelnd. 2016 hat er seine Praxis an Tamar Stricker, eine aus Israel stammende Kinderärztin, die seit vielen Jahren in Zürich lebt, übergeben und arbeitet seitdem nur noch einen bis drei Tage pro Woche in seiner Praxis. Doch ganz aufzuhören, das kann sich der Kinderarzt trotz seines Alters noch nicht vorstellen.
Vermutlich hat dies auch damit zu tun, dass bereits Krauthammers Vater Arzt war und für den Sohn Willy, im Unterschied zu seinen beiden Brüdern, schon früh feststand, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Voller Stolz zeigt er seinen Medikamentenschrank, den er von seinem Vater geerbt hat.
Doch bevor Willy Krauthammer von seinem Vater berichtet, erzählt er, wie sein eigener Weg verlief: Seine Ausbildung absolvierte Krauthammer in den 60er-Jahren vor allem in Basel, aber auch in Paris und London. Die Entscheidung, sich auf das Fach Kinderneurologie zu spezialisieren, kam früh – und es lässt ihn bis heute nicht los. »Das fasziniert mich immer noch!«, sagt er.
Sein Vater kam aus Osteuropa in die Schweiz. Auch er war Arzt.
1968 eröffnete er seine Praxis in Zürich. Mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG)erfasste er die Hirnaktivitäten sogenannter Problemkinder, vor allem solcher mit Entwicklungsstörungen. Dies war damals ziemlich revolutionär, weshalb auch das Schweizer Fernsehen auf Willy Krauthammer aufmerksam wurde.
Doch neben der Wissenschaft, erzählt Krauthammer, habe immer der Gedanke gestanden, den jungen Patienten zu helfen und sie nach Möglichkeit zu heilen.
Familie In jenen Jahren wurde Willy Krauthammer selbst Vater von drei Kindern, und inzwischen hat er sieben Enkel. Einige schauen gelegentlich in der Praxis vorbei. Einer der Söhne ist wie sein Vater Arzt geworden, und auch ein Enkel studiert Medizin.
Der Arzt als Helfer der Menschen, das sei bereits bei seinem Vater, einem Allgemeinmediziner, die Devise gewesen, sagt Willy Krauthammer. »Das war ihm stets ein Anliegen.«
Allerdings wurde es dem Vater, der als junger Mann aus Osteuropa in die Schweiz gekommen war, in Zürich nicht gerade leicht gemacht. »Er musste das Abitur wiederholen«, erzählt Willy Krauthammer.
»Weil mein Vater anfangs nicht als Arzt arbeiten durfte, musste er sich als Koch und Lehrer durchschlagen«, erzählt Krauthammer.
Zudem war eine Zulassung in Zürich vor und während des Zweiten Weltkriegs unmöglich. Deshalb konnte er, nachdem er sein Studium beendet hatte, nur im Kanton Appenzell eine Praxis eröffnen.
Also zog er mit seiner Familie dorthin. Und obwohl die Krauthammers nicht besonders religiös waren, verbrachten sie die Feiertage in der Synagoge. »Es gab damals fast überall in der Schweiz einen ausgeprägten Antisemitismus«, erinnert sich Willy Krauthammer. Doch persönlich habe er ihn wenig gespürt, ergänzt er.
»Weil mein Vater anfangs nicht als Arzt arbeiten durfte, musste er sich als Koch und Lehrer durchschlagen«, erzählt Willy Krauthammer weiter. »Doch während des Zweiten Weltkriegs machten die Behörden eine Ausnahme.« Der Vater, Offizier der Schweizer Armee, war in der nahegelegenen Festung Sargans stationiert. »Da griff man gerne auf seine Fähigkeiten als Arzt zurück.«
Da sein filmischer Ehrgeiz über das Drehen medizinischer Fachfilme hinausging, hat er abgelehnt.
Willy Krauthammer erzählt dies ohne Groll. Anschließend kommt er auf sein eigenes Leben zurück und auf eine weitere Leidenschaft neben der Medizin: das Filmen. »Bereits 1944 bekam ich eine 8-mm-Kamera, das war damals eine Riesensache!« Die Kamera wird ihn von da an bis heute begleiten. Selbstverständlich hält er damit auch sein Familienleben fest, und er dreht Filme von Reisen, die er mit seiner Frau Doris gemacht hat.
Beinahe wäre ihm seine zweite Leidenschaft zum Beruf geworden. »Als ich ein junger Arzt war, bot mir der damalige Basler Pharmakonzern Sandoz an, die Filmabteilung zu übernehmen, die sich damals, in den 60er- und 70er-Jahren, gerade im Aufbau befand.« Doch da sein filmischer Ehrgeiz über das Drehen medizinischer Fachfilme hinausging, hat er abgelehnt und sich dann schließlich doch dafür entschieden, es beim Hobby zu belassen – was er bis heute nicht einen Tag bereut hat.