Seit Anfang der Woche wird Michail Kapustin im Internet antisemitisch beschimpft. Der auf der Krim amtierende Rabbiner soll nach der faktischen Machtübernahme durch russische Soldaten angeblich US-Präsident Obama aufgerufen haben, die fünfte Flotte der Navy auf die Halbinsel zu schicken.
»Seit die russischen Soldaten hier sind, hat der Antisemitismus zugenommen«, sagt Kapustin. Alle jüdischen Einrichtungen seien bis auf Weiteres geschlossen. »Wir werden erst wieder öffnen, wenn wir einen bewaffneten Wachschutz haben. Sonst können wir nicht für die Sicherheit garantieren.« Die Situation sei weiterhin gefährlich.
Maidan-Gegner Am Wochenende hat die Kiewer Übergangsregierung neue Gouverneure für mehrere Regionen des Landes ernannt. Sie sollen die Lage beruhigen. Im Gebiet Dnepropetrowsk, einer Hochburg der Maidan-Gegner im Osten der Ukraine, wurde mit Igor Kolomoisky ein ukrainischer Jude und einer der reichsten Geschäftsleute des Landes zum Gouverneur ernannt. Die israelische Tageszeitung Haaretz sieht darin einen demonstrativen Schritt der neuen Regierung, um sich gegen Antisemitismusvorwürfe zu wehren. Pinchas Vyschedsky, Rabbiner im benachbarten Gebiet Donezk, weist dies jedoch zurück.
Die Ernennung habe nichts damit zu tun, dass Kolomoisky Jude sei. »Das gehört zu einer allgemeinen und richtigen Strategie: Die neue Regierung vergibt an solche Menschen Gouverneursposten, die über viel Einfluss verfügen und die für Ruhe sorgen können.«
Die russischen Drohungen, die ungeklärte Machtfrage in manchen Regionen und ökonomische Probleme beunruhigen die Menschen. »Die Atmosphäre ist angespannt: Wir sind nur 80 Kilometer von der russischen Grenze entfernt«, erklärt Rabbiner Vyschedsky, dessen Gemeinde an die 10.000 Mitglieder zählt. »Die Polizei ist nur wenig präsent, man fühlt sich ungeschützt.«
In letzter Zeit gab es jedoch keinerlei Angriffe auf Juden in der Stadt. Momentan haben Vyschedskys Gemeindemitglieder mehr und mehr ökonomische Sorgen: Die Renten werden nicht voll ausgezahlt, der Kurs der Landeswährung fällt. In der Heimatstadt des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch werden derzeit zwei Etagen der Gebietsverwaltung von prorussischen Demonstranten besetzt. Einer von ihnen hat sich sogar zum Gouverneur erklärt.
Iwano-Frankowsk Stabiler ist die politische Situation derzeit im Westen des Landes: In Iwano-Frankowsk, einer Hochburg der ukrainischen Nationalisten, stehen zwar noch hier und dort Barrikaden, allerdings sind sie inzwischen nicht mehr besetzt. Vor knapp zwei Wochen hatten Demonstranten hier noch die örtliche Geheimdienstzentrale geplündert, Waffen erbeutet und sie am Ende niedergebrannt. Polizei war auf den Straßen der Stadt nicht mehr zu sehen. »Unsere Mitglieder, viele von ihnen sind schon älter, stehen noch unter Schock«, erklärt Rabbiner Moische Lejb Kolesnik. Allerdings gab es auch hier keine antisemitischen Übergriffe.
Im Stadtparlament haben die Mitglieder der nationalistischen Swoboda-Partei die Mehrheit, Kolesnik kennt viele von ihnen persönlich. »Eine Sache sind ihre Losungen, eine andere die Wirklichkeit«, sagt er. »Natürlich sitzt der Antisemitismus in diesen Leuten, aber er kommt nicht zum Vorschein.«
Gefährlicher seien die weniger offiziellen radikalen Gruppen, die in den vergangenen Wochen maskiert und mit Baseballschlägern in der Hand an den Zufahrten der Stadt willkürlich Autos kontrollierten.
Josef Zissels, Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden in der Ukraine, sieht das ähnlich. »Der viel zitierte ›Rechte Sektor‹ ist kein antisemitischer Klub, sondern ein Sammelbecken für alle möglichen Subkulturen. Sie können erschrecken, aber nicht nur Juden, sondern jede Minderheit«, erklärt er.
Provokation Zissels sieht momentan die größte Gefahr für die jüdischen Gemeinden in gezielten Provokationen, hinter denen Vertreter des gestürzten Regimes oder der russische Geheimdienst stehen. »Indem sie Attacken auf jüdische Einrichtungen verüben, versuchen sie, die neue Regierung als faschistisch und antisemitisch zu diskreditieren.« Gegen solche Provokationen könne man mit mehr Wachschutz oder Überwachungskameras nichts ausrichten. »Wir haben Zusicherungen bekommen, dass der Geheimdienst sich damit beschäftigen wird.«
Zissels sieht hinter den jüngsten Anschlägen auf jüdische Einrichtungen ebensolche Provokationen: In Saporoschje war vor zwei Wochen ein Brandsatz an die Mauer der Synagoge geworfen worden, und an den Eingang der Synagoge in Simferopol hatten Unbekannte Ende Februar »Tod den Juden« gesprüht. »Solche Dinge könnten von Russen verübt werden, die sich als ukrainische Nationalisten verkleiden«, erklärte der Kiewer Oberrabbiner Yaakov Bleich am Montag in New York.
Sowohl im Westen als auch im eher russlandfreundlichen Osten des Landes beurteilten die Menschen die jüngsten Schritte der Russen »sehr negativ«, so urteilen Vyschedsky und Kolesnik übereinstimmend.
Dennoch fühlen sich die Juden in der Ukraine traditionell eher der russischen Kultur zugehörig – für die meisten ist die Muttersprache Russisch. Josef Zissels erinnert daran, dass die meisten Juden, die im Westen lebten und eher ukrainisch geprägt waren, während der Schoa ermordet wurden. Nach dem Krieg belebten Juden aus der Ostukraine die Gemeinden. »Diese Juden sprechen heute besser Ukrainisch als viele andere Minderheiten«, so Zissels. Ihm fällt auf, dass die jüdische Gemeinschaft in der Ukraine heute ebenso wie der Rest der Gesellschaft gespalten ist: »Die eine Hälfte ist für die neue Regierung, die andere dagegen.«