Vielleicht sollte man einfach den Blog abdrucken, den Alan Gill aus der Ukraine geschrieben hat, um zu verstehen, was der Joint, oder akkurater gesagt, das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) eigentlich ist, und vor allem, was diese wohl wichtigste jüdische Hilfsorganisation eigentlich tut. Gill, Vorstand des JDC, erzählt darin von den Juden in der Ostukraine, und von denjenigen Juden, die ihnen helfen, das Chaos und die Not zu überleben, die seit Beginn der Kämpfe zwischen Separatisten und der Regierungsarmee herrschen.
Da ist zum Beispiel Galina, 80 Jahre alt, Großmutter und Urgroßmutter. Und Chefin der JDC-Zentrale in Kramatorsk in der Ostukraine. Seit dort die ersten Kämpfe ausgebrochen sind, arbeitet Galina täglich beinahe rund um die Uhr, um zumindest die Grundversorgung für die Juden in der Stadt zu sichern. Eine fast unmögliche Aufgabe.
Notunterkünfte Es ist heiß im Sommer. Wochenlang fließt kein Wasser aus den Leitungen. Gill trifft Galina in der Millionenstadt Dnepropetrowsk, wohin sie an dem Tag ihrer Begegnung hatte fliehen müssen, und von wo aus sie weiterhin mit den Dutzenden Mitarbeitern in Kramatorsk in Kontakt bleibt, die dort von Haus zu Haus gehen, um zu sehen, wer noch Hilfe braucht. Tausende ukrainischer Juden sind mittlerweile aus den Kampfgebieten nach Dnepropetrowsk geflohen. Sie harren dort in Notunterkünften aus und sind auf die Hilfe des Joint angewiesen.
Wenn man so will, liegt diese aktive Unterstützung, dieses »Vor Ort sein und in kürzester Zeit Lösungen finden müssen« dem JDC, das dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, in den organisatorischen Genen. Seine Geschichte beginnt mit einem Telegramm, das Henry Morgenthau, damals amerikanischer Botschafter in der Türkei, dem Banker und Philanthropen Jacob Schiff nach New York schickt.
Morgenthau Im Jahr 1914 bleiben wegen des begonnenen Krieges die Hilfslieferungen aus Europa für die Juden in Palästina aus, das damals noch unter Herrschaft der Türkei steht. »Die palästinensischen Juden sehen einer furchtbaren Krise entgegen«, schreibt Morgenthau seinem Freund daraufhin. Eine blühende Gemeinde sei bedroht. »Die Bedingungen rechtfertigen sicherlich amerikanische Hilfe. Wirst du die Sache in die Hand nehmen?« Morgenthau bittet um 50.000 Dollar und hat sein Geld in weniger als vier Wochen.
Schiff und andere Spender werden während der kommenden Jahre noch oft in die Tasche greifen. Bis zum Ende des Krieges haben die amerikanischen Juden 16 Millionen Dollar gegeben, um Juden in Europa und Eretz Israel zu helfen, die im Krieg ihre Unterkünfte verloren hatten, oder die ganz einfach hungrig waren. Heute wären das übrigens rund 320 Millionen Dollar.
Um die Verteilung des Geldes und der Hilfsgüter, die von verschiedenen jüdischen Wohlfahrtsorganisationen gesammelt wurden, in einer Hand zu organisieren, hatte man gleich zu Beginn der Aktion ein gemeinsames – also »joint« – Verteilungskomitee gegründet, das zunächst noch »Joint Distribution Committee of American Funds for the Relief of Jewish War Sufferers« hieß und dann bald zum JDC wurde.
Hunger Was eigentlich als vorübergehende Einrichtung gedacht gewesen war, sollte sich in den kommenden Jahrzehnten als Anker für Hunderttausende von Juden in Not erweisen. Nach dem Krieg brach das Riesenreich der Habsburger zusammen, in Russland hatten die Bolschewiki in einer blutigen Revolution den Zaren abgesetzt. Für die Juden in Ost- und Mitteleuropa wurde es schwerer, viele von ihnen litten unter Hunger und Krankheiten. Zudem ließen bald die nichtjüdischen Bürger ihre Frustration und ihren Hass in Feindseligkeiten und Pogromen an ihnen aus. Das JDC begann, neben Medizin und Nahrungsmitteln, eigene Ärzte und Sozialarbeiter in Notgebiete zu schicken.
Als Anfang der 30er-Jahre auch in anderen europäischen Ländern und vor allem in Deutschland die Aussichten düsterer wurden, appellierte kein Geringerer als Albert Einstein an die amerikanischen Juden, das JDC in seiner Arbeit weiterhin zu unterstützen.
Doch die größte Katastrophe stand noch bevor. Während der Nazizeit operierte das JDC weltweit, um Juden zur Flucht in sichere Länder zu verhelfen. Nach der Schoa half das Werk den Überlebenden in Europa, und ab 1948 brauchten auch die Misrachim, die nach und nach aus ihren arabischen Heimatländern vertrieben wurden, seine Unterstützung. Der wachsende Antisemitismus in den Ostblockstaaten sollte bald neue Herausforderungen bringen.
Naturkatastrophen Und heute? »Als globales Volk sind wir von fast allen Desastern betroffen«, sagt JDC-Chef Gill. »Das vergangene Jahrzehnt hat Kriege, ökonomische Krisen und Naturkatastrophen gebracht. Und wir haben den Juden an den jeweiligen Orten geholfen – ob es in Griechenland war, in Argentinien oder jetzt in der Ukraine.«
In der früheren Sowjetunion helfen in Krisensituationen neben den JDC-Mitarbeitern auch viele einheimische Freiwillige. Von Beginn an, nachdem das Sowjetsystem zusammengebrochen war und die Grenzen sich öffneten, sei es dem JDC wichtig gewesen, Juden in Ländern wie Georgien oder der Ukraine nicht nur zu helfen, sondern ihr Bewusstsein für ihr Judentum zu stärken, sagt der Sprecher des JDC, Michael Geller. »Unser Motto ist: Ein Jude steht für den anderen ein. Wir helfen einander. Das ist eine zutiefst jüdische Haltung. Und auch die wollen wir vermitteln«, sagt Geller.
Zu diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit passt es übrigens gut, dass zu den größten Spendern des JDC die mehr als 150 amerikanischen Jewish Federations gehören, die Hilfsorganisationen also, denen sich die meisten amerikanischen Juden auf Ortsebene immer noch verbunden und, unabhängig von der Dicke des Geldbeutels, verpflichtet fühlen. Neben hohen Geldbeträgen gehen über das Jahr auch zahlreiche 18-Dollar-Schecks bei den Federations ein.
Pogrome Auch im ukrainischen Dnepropetrowsk hatten sich viele Juden unter dem Druck von Pogromen und der kommunistischen Herrschaft von ihrer Tradition entfernt. Heute bieten verschiedene vom JDC unterstützte Organisationen und der Joint selbst zahlreiche Hilfen und Programme für die rund 60.000 Juden in der Stadt an. Ob alleinstehende Mütter eine Jobberatung suchen, Kinder ins Ferienlager fahren wollen oder Eltern eines behinderten Kindes Unterstützung brauchen – es ist jemand da und hilft.
Sarah Eisenman erfüllt das mit Genugtuung: vor allem das Wissen, dass unter den Hilfskräften so viele einheimische Juden sind. Und mit ihrer eigenen Arbeit schafft sie die Hoffnung, dass dies in der nächsten Generation so weitergehen wird. Eisenman ist die Direktorin von »Entwine«, dem jungen Hilfsnetzwerk innerhalb des Joint, das Juden aus allen Ländern die Möglichkeit bietet, vor Ort zu Hause oder für mehrere Monate in anderen Staaten einen Freiwilligendienst zu leisten.
Identität Natürlich, sagt Eisenman, sei das auch ein Weg, junge Persönlichkeiten für die jüdische Gemeinschaft zu rekrutieren, die später einmal Verantwortung und Führung übernehmen könnten. »Doch am wichtigsten ist es, diesen jungen Menschen eine Möglichkeit zu geben, ihr tiefes Bedürfnis auszuleben, zu helfen und involviert zu sein – und gleichzeitig ihre jüdische Identität zu stärken.«
Als sich der erste junge Ukrainer gemeldet habe für einen Hilfseinsatz für Juden in einem anderen Land, habe sie gewusst, dass die Arbeit mit den ukrainischen Juden erfolgreich gewesen sei, sagt sie. »Diese Menschen brauchen wir. Sie sehen die Welt mit jüdischen Augen.« In allen Arbeiten sei es dem JDC auch und oft vor allem wichtig, jüdische Identität zu stärken.
Wenn man es durch diese Brille sieht, kann man auch ein Projekt wie »Bambinim« in Berlin verstehen, das auf den ersten und auch auf den zweiten Blick mit materieller Hilfsbedürftigkeit nichts zu tun hat. Oder überhaupt verstehen, dass eine Hilfsorganisation wie der Joint im Wohlstandsland Deutschland agiert.
Im Bambinim-Projekt treffen sich Eltern mit ihren Kindern und feiern, angeleitet vom JDC, den Schabbat oder die Feiertage auf ihre Weise. Oft sind nicht beide Eltern Juden, doch eine jüdische Umgebung wollen sie für ihre Kinder dennoch schaffen. Und wahrscheinlich haben diese Kinder auch nur so die Chance, in die jüdische Gemeinschaft hineinzuwachsen.
Ersatzfamilie Darauf hofft zumindest Lili Furman, die den Joint in der Bundesrepublik repräsentiert. Durch die starke Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion habe man neue Formen der Integration entwickeln müssen, sagt sie. »Und dabei will das JDC den einheimischen jüdischen Einrichtungen helfen.« Auch und gerade mit unkonventionellen Projekten wie Bambinim, wo Juden aus aller Herren Länder eine Art Ersatzfamilie finden, zusammen den Schabbatsegen lernen, viele zum ersten Mal Tu Bischwat feiern und ihre kleinen, halachisch gesehen oft nichtjüdischen Kinder in ein jüdisches Sommercamp schicken.
Hilfsbedürftigkeit muss nicht immer mit materieller Not zu tun haben. Manchmal besteht die größte Hilfe darin, alten ukrainischen Juden Verantwortung für andere Juden zu übertragen und damit ihrem Leben neuen Sinn zu geben. Oder Berliner Kindern aus gemischten Ehen die Türen zur jüdischen Welt zu öffnen. Damit sie diese Welt als Erwachsene vielleicht mit jüdischen Augen sehen. Nicht nur für den Joint wäre das ein gelungenes Hilfsprojekt.