Lifestyle

Ein Herz für Hühner

Das riesengroße weiße Schild mit den grünen Buchstaben JVS und dem Untertitel »For a Vegetarian World« ist unübersehbar. Alle, die den Supermarkt auf der anderen Straßenseite verlassen, sehen es. Und das sind viele, denn es ist der größte Discounter in Golders Green, dem Londoner Viertel mit den meisten jüdischen Einwohnern.

Hinter dem Schild ragt ein dreistöckiges, etwa 100 Jahre altes Haus hervor, umgeben von einem großen Grundstück. Beides gehört der Jewish Vegetarian Society (JVS), der Jüdischen Vegetarier-Gesellschaft. Betritt man das Haus durch die rechte Tür, gelangt man in ein modern gestaltetes Büro. An der Wand hängen gerahmte Fotos, die die 50-jährige Geschichte der JVS dokumentieren. Überall im Raum liegen Exemplare des Hausmagazins »Jewish Vegetarian Quarterly«. Sie sind voll mit vegetarischen Rezepten und Ratschlägen.

Direktorin Hinter einem modernen Bürotisch sitzt die Direktorin der Organisation, Lara Smallman. Sie trägt eine blaue Bluse und einen geblümten Rock. Obwohl sie schon seit ihrer Kindheit Vegetarierin ist und ganz in der Nähe aufwuchs, wurde sie erst als Erwachsene auf die JVS aufmerksam. »Meine Eltern glaubten, es sei gesünder, kein Fleisch zu essen«, erzählt die 28-Jährige, die Philosophie und Französisch studiert hat. »Ich war oft die einzige Vegetarierin. Damals in meiner Kindheit war Fleisch die Norm – einen Schabbat ohne Huhn konnten sich viele nicht vorstellen«, sagt sie und lacht.

Über die Jahre arbeitete Smallman ihren Lebensstil weiter aus. So lebt sie seit fast zwei Jahren sogar fast vegan. Das einzige Tierprodukt, das sie heute noch verzehrt, sind die Eier von einem Hof, auf dem die Hühner auch nach ihrer produktiven Phase noch weiterleben dürfen. Die Eier verkauft JVS allwöchentlich an Mitglieder.

Obwohl Smallman erst seit knapp zwei Jahren für die JVS arbeitet, hat sie die Organisation vollkommen umgekrempelt und neu belebt. Nach langen Jahren der relativen Inaktivität gibt es endlich wieder regelmäßige Kochabende in Londons großem jüdischen Kulturzentrum JW3. Nun plant Smallman, das Stammhaus komplett umzubauen, »sodass auch hier wieder gekocht und gegessen werden kann, so wie früher«.

Anfänge Die Geschichte der JVS begann, als die Vegetarierin Vivian Pick vor etwa 50 Jahren mit einer Annonce in der Zeitung Jewish Chronicle nach Gleichgesinnten suchte. Picks Vater, ein Immobilienhändler, schenkte der Gesellschaft 1971 das heutige Stammhaus »Bet Teva« (Haus der Natur). Jahrelang gab es hier viele öffentliche Veranstaltungen wie Kochabende, und gelegentlich gingen die Mitglieder auch auf die Straße, um für Tierrechte zu demonstrieren. Doch mit zunehmendem Alter der Gründungsmitglieder nahmen die Aktivitäten ab, und man vermietete den größten Teil des Hauses. So gibt es im Nebenflügel heute zum Beispiel einen jüdischen Kindergarten. Die Einnahmen, die sich über die Jahre angesammelt haben, erlauben es Smallman nun, ungehindert die Zukunft der jüdischen Vegetarier neu zu gestalten.

Auch für spirituelle Unterstützung hat Smallman inzwischen gesorgt: Sowohl der ehemalige irische Oberrabbiner David Rosen (64) als auch der Hauptrabbiner des britischen Zweigs der Masorti-Bewegung, Rabbi Jonathan Wittenberg (57), unterstützen den Verein.

Für Rabbi Wittenberg, den Schirmherrn der JVS, ist Vegetarismus Teil der ökologischen Verantwortung, die Gott den Menschen übertrug. In der Tora stehe zwar viel über das Opfern von Tieren, aber man müsse verstehen, dass das Vergießen von Tierblut für die Menschen damals etwas sehr Kostspieliges gewesen sei, sagt er. Und eben darum gehe es ja beim Opfern: »Der Mensch soll etwas Wertvolles geben.«

Wittenberg beklagt, dass der modernen Gesellschaft, die weitab von den Orten lebt, an denen geschlachtet wird, das Leiden von Milliarden Tieren vollkommen gleichgültig sei. »Das widerspricht unseren jüdischen Vorschriften, denn wir dürfen Tieren weder zu ihren Lebzeiten, noch in der Art, wie wir sie töten, Leid zufügen«, argumentiert er.

Es gehe aber hierbei nicht nur um Tiere, betont der Rabbiner. »Wir müssen alle, die auf dem Feld oder in der Nahrungsproduktion arbeiten, gut behandeln – so verlangt es die Kaschrut«, sagt Wittenberg und streicht sich durch den Bart. Vorschriften der Nachhaltigkeit, wie das Schabbatjahr, hätten seit der Gründung Israels an Bedeutung gewonnen, weil wieder eine permanente Beziehung zum Land bestehe. Das habe auch Avraham Yitzchak Cook erkannt, der erste Oberrabbiner von Eretz Israel, damals noch unter dem britischen Mandat. Auch er habe vegetarisch gelebt, erklärt Wittenberg. Zu einer fleischlosen Ernährung zwingen wolle er aber niemanden. Doch sollte man durchaus auf die Probleme des »modernen industriellen Nahrungswahns« hinweisen.

Mitglieder Unter den rund 500 Mitgliedern der JVS gibt es auch einige außerhalb Großbritanniens. Und Interessenten aus Deutschland dürften sich ebenfalls gern anmelden, sagt Smallman. Sie hofft, dass sie mit der Erneuerung der Gesellschaft bald noch mehr Menschen von einem »Leben des Mitgefühls« überzeugen kann. Manchmal muss sie dazu religionsspezifische Fragen beantworten – zum Beispiel, ob es tierfreundliche Tefillin gibt. Lara Smallman hat solche entdeckt: Ein Rabbiner in Israel fertigt sie aus Leder, das von Tieren stammt, die eines natürlichen Todes gestorben sind. Inzwischen gibt es auch Torarollen, deren Pergament von Tieren stammt, die im Straßenverkehr überfahren wurden – man nennt es auf Englisch »road-kill«.

Angriffe auf das traditionelle Schächten hält Smallman jedoch für falsch: »Unserer Meinung nach sollten zwar grundsätzlich keine Tiere geschlachtet werden, aber der gezielte und isolierte Angriff auf die Schechita ist ein falscher Ansatz. Es geht nicht um die letzten zehn Sekunden eines Tiers, sondern darum, wie die Tiere in ihrem gesamten Leben behandelt werden.«

www.jvs.org.uk

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