Ab und zu klingt das Scheppern der Baustelle herüber, durch die alten Fenster und das steinerne Treppenhaus hindurch, aber Eva Stixova hört es schon fast nicht mehr. Seit Monaten lärmen die Arbeiter im Hinterhof, schubkarrenweise haben sie Schutt herausbefördert und schließlich wochenlang steinerne Säulen bemalt. Eva Stixova sitzt ungerührt vorn im Besprechungszimmer und redet von der Zukunft.
»Das wird wunderbar«, ruft sie, »stellen Sie sich vor: Ich habe im Keller unserer Großen Synagoge einen riesigen Lüster gefunden, den hängen wir hier wieder auf.« Das Prachtstück aus böhmischem Kristall wird sein Licht auf die neue Ausstellung werfen, die hier einzieht, sobald die Handwerker Platz gemacht haben.
Jahrzehntelang hat Eva Stixova auf diesen Moment hingearbeitet, hier von den Gemeinderäumen aus. Sie ist über 70 Jahre alt, schon lange steht sie der jüdischen Gemeinde in Pilsen vor. Von ihrem Büro aus blickt sie auf den Park entlang der historischen Stadtmauer, das Haus wirkt von außen unscheinbar: Es ist eines der barocken Gebäude in der Pilsener Altstadt, im Erdgeschoss hat ein Apotheker seinen Laden, und oben sitzt eben die Gemeinde, aber die eigentliche Besonderheit versteckt sich im Innenhof.
eingerüstet Wenn die schwere Holztür aufschwingt, öffnet sich der Blick auf die kleine Synagoge, die derzeit noch eingerüstet ist. Sie stammt von 1857. Heute wirkt sie in dem engen Hinterhof wie eingeschnürt, dafür recken sich die Mauern mit ihren hohen Fenstern zwölf Meter hinauf. Wenn Eva Stixova ihre Gäste zur Synagoge führt, hält sie an der Tür zum Hof stets einen Moment inne, dann schmunzelt sie und sagt mit unverhohlener Freude: »Stellen Sie sich vor: Es gibt gebürtige Pilsener, die nicht wissen, dass wir hier diese herrliche Synagoge haben. Von der Straße aus ist sie nicht zu sehen. Aber die Leute werden sie kennenlernen, jetzt endlich!«
Bislang ist das jüdische Leben in Pilsen vor allem wegen der Großen Synagoge bekannt: ein eindrucksvolles Gebäude, das sich stolz an der Hauptstraße erhebt und 1500 Betern Platz bietet – eine der größten Synagogen Europas. Einst symbolisierte sie das Selbstbewusstsein und das rasante Wachstum der Pilsener Gemeinde: In den wenigen Jahren von 1854 bis 1870 wuchs ihre Mitgliederzahl um fast 1000 auf 1200 Personen. Noch heute ist die jüdische Gemeinde in Pilsen nach Prag und Brünn die drittgrößte des Landes – allerdings zählt sie inzwischen nur noch 112 Mitglieder.
spektakulär Ab Herbst soll die alte Synagoge, die sich im Innenhof versteckt, nach der langen Renovierung wieder zugänglich sein. Ein Museum soll hier untergebracht werden – als Teil eines spektakulären Projekts: Die tschechische Föderation jüdischer Gemeinden plant ein Museum, das auf zehn Orte im ganzen Land verteilt ist.
»Was uns vorschwebt, ist ein regionales Museum der jüdischen Kultur«, sagt Jan Kindermann. Er sitzt, gute 80 Kilometer von Eva Stixova entfernt, in seinem Prager Büro. Dort laufen die Fäden aus dem ganzen Land zusammen. »Wer sich in Tschechien mit der jüdischen Kultur auseinandersetzen will«, sagt Kindermann, »der geht bislang entweder in unser großes Museum in Prag oder nach Theresienstadt. Wir wollen aber zeigen, dass es noch viel mehr interessante jüdische Orte im Land zu sehen gibt.«
Meistens sind es kleine Gemeinden, zum Teil in entlegeneren Regionen; das Wirtschaftszentrum Pilsen ist mit Abstand die größte der beteiligten Städte. Bis zum Holocaust gab es in den ländlichen Gemeinden reges jüdisches Leben; seither allerdings waren die meisten Synagogen sich selbst überlassen, genauso wie die alten Schulen, die Wohnhäuser der Rabbiner und viele der anderen Denkmäler, die sich um die Synagogen gruppieren. Viele drohten einzustürzen; die Probleme glichen sich überall. Buchstäblich in letzter Minute kam der Prager Dachverband auf die Idee mit dem vernetzten Museum – ein Projekt, das in Europa ohne Beispiel ist.
Die zehn Ausstellungen sollen inhaltlich eigenständig sein, sich aber zugleich aufeinander beziehen. »Wir wollen zeigen, wie sehr die jüdische Kultur ein vollwertiger Teil des Lebens in diesem Land gewesen ist«, sagt Kindermann – und das eben gerade durch den Fokus auf die Provinz. Im Ort Ustek etwa wird es in der neuen Ausstellung um das jüdische Schulwesen gehen, in Jicin um Karl Kraus und den Kreis der Prager Literaten um Franz Kafka und Franz Werfel, in Pilsen wiederum um jüdische Feiertage und Bräuche. »Jeder Besucher wird eine Art Reiseplan bekommen«, sagt Kindermann. »Darin werben wir für die jeweils anderen Ausstellungen.«
Das Ziel ist klar: Die Ausstellungen sollen als regionales Informationszentrum über das Judentum dienen. Und wer sich intensiver damit beschäftigen möchte, bekommt gleich den Hinweis darauf, wo er weitere Aspekte entdecken kann.
rundreise Dabei sind es nicht nur die Ausstellungen, die eine Rundreise interessant machen – auch die Synagogen selbst sind ausgesprochen sehenswert. Etwa in Mikulov in der südmährischen Weinregion: Dort spannen sich vier Kuppeln über den Betsaal, die auf vier Säulen ruhen; eine Bauart, die in dieser Gegend unüblich ist.
»Wir wussten von alten Fotos, dass früher Torazitate an den Wänden angebracht waren«, sagt Kindermann. Irgendwann in der kommunistischen Zeit haben Arbeiter die Wände mit weißer Farbe übertüncht. Erst jetzt konnten Restauratoren sie unter den Farbschichten wiederentdecken. In monatelanger Kleinarbeit haben die Experten sie wiederhergestellt – obwohl sie allen schon längst als verloren galten.
Solche Erfolgsgeschichten gibt es bei dem Museumsprojekt immer wieder. Fast überall sind etwa die Toraschreine zerstört worden. In fünf Synagogen werden sie jetzt wiederhergestellt, auch wenn die Originale verschollen sind. »Wir hatten nur alte Fotos als Grundlage, aber dank der hervorragenden Restauratoren hat das gereicht, um gute Repliken anzufertigen«, sagt Kindermann.
Ein bisschen klingt dabei sein beruflicher Hintergrund an: Er ist keineswegs erfahrener Museumskurator, sondern kommt aus der Baubranche. Bei der Föderation der jüdischen Gemeinden war er lange Jahre für die Renovierung der Denkmäler zuständig – eine Aufgabe, erinnert er sich, die oftmals frustrierend gewesen sei: Für die zahlreichen Gebäude, die über das ganze Land verteilt sind, gab es viel zu wenig Geld.
Vor Ort existieren in den meisten Fällen keine aktiven Gemeinden mehr, und die staatlichen Zuschüsse reichten oft nur für die nötigsten Reparaturen. Aus dieser Erfahrung heraus ist die Idee zu dem Museumsprojekt entstanden: So können mit Geld vom tschechischen Staat und von der EU zumindest einige der historischen Schätze bewahrt werden – das war der erste Gedanke. Welche Chancen es bietet, in den geretteten Synagogen ein Museum aufzubauen, haben die Organisatoren erst danach erkannt.
ballustraden In Pilsen steht Eva Stixova indes auf der Baustelle. Die Maler haben die hölzernen Ballustraden an den Balkonen mit Folien verhängt, damit sie keine Farbspritzer abbekommen. Im Hintergrund dudelt Popmusik aus dem Radio. Die Gemeindevorsitzende sieht erleichtert aus und auch ein bisschen stolz. »Wir haben jahrelang alles versucht, um die Synagoge zu retten«, sagt sie. »Wir haben Benefizkonzerte veranstaltet, Sponsoren angesprochen und Anträge auf öffentliche Mittel geschrieben – aber das Geld hat nie gereicht. Jetzt endlich hat es mit der Renovierung geklappt, dank des Museumsprojekts.«
Für Stixovas Gemeinde bedeutet der Herbst, wenn die Synagoge feierlich wiedereröffnet wird, weit mehr als nur eine abgeschlossene Renovierung oder ein gerettetes Gemäuer: Es wird, so hofft Eva Stixova, ein wichtiger Impuls für das jüdische Leben in Pilsen.
»Schon jetzt bringen uns viele Leute alte Fotos von der Gemeinde. Sie haben über unser Projekt gelesen und sich an Bilder irgendwo auf dem Dachboden erinnert«, sagt sie. Vorlesungen und Diskussionen soll es dann im Innenhof der Synagoge geben – und endlich auch wieder Gottesdienste, das erste Mal seit fast 80 Jahren.