Nach vier Jahren Brexit-Debatte ist Julia Neuberger erleichtert, dass nun endlich Klarheit herrscht. Die 69-Jährige, Rabbinerin der liberalen jüdischen Gemeinde von West-London, ist eine überzeugte »Remainerin«. Sie hat für den Verbleib Großbritanniens in der EU gekämpft. Aber die Mehrheit der Briten sei eben für den EU-Austritt gewesen. So sei das nun einmal in der Demokratie, meint sie.
Brexit Nach vier Jahren zähen Ringens um den Brexit, den die Baronin als parteiloses Mitglied des britischen Oberhauses hautnah miterlebt hat, geht es nun nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie des britischen EU-Austritts. Seit dem 1. Februar ist das Land kein Mitglied der Union mehr. Zwar bleiben in einer Übergangszeit bis Ende Dezember 2020 alle bisherigen EU-Regelungen in Kraft. Was jedoch danach passiert, ist völlig offen.
Die Verhandlungen über das künftige Verhältnis werden erst Anfang März beginnen. Und es besteht großer Zeitdruck: Der britische Premierminister Boris Johnson hat bereits klar gemacht, dass er die Übergangszeit unter keinen Umständen verlängern will. Wie schon im vergangenen Jahr hängt daher erneut der »harte Brexit« in der Luft.
Viele sind verhalten optimistisch, was die Zukunft angeht.
Ein Austritt ohne Abkommen hätte womöglich auch Auswirkungen auf die Sicherheitspolitik. So könnten EU-Sanktionen gegen ausländische Terrorgruppen schlagartig entfallen, falls sie nicht zwischenzeitlich in nationales Recht überführt werden.
Auch der Wegfall der in den EU-Verträgen verankerten Grundrechtsgarantien könnte zum Problem werden. Möglicherweise wird sich koscheres Fleisch, das aus der EU importiert wird, aufgrund von Einfuhrzöllen verteuern. Man sei aber bereits mit der Regierung im Gespräch zu diesen Fragen, sagte Sheila Gewolb, Vizepräsidentin des Board of Deputies of British Jews, der Jüdischen Allgemeinen.
Spaltung Nach wie vor ist die britische Gesellschaft in der Brexit-Frage tief gespalten. Der Riss geht selbst durch Familien. »Es ist jetzt die Aufgabe der Politiker, dafür zu sorgen, dass die Wunden wieder verheilen«, meint Gewolb. Der jüdischen Gemeinschaft gehe es dann am besten, wenn gesellschaftlich und wirtschaftlich Ruhe herrsche.
Seit der Parlamentswahl im Dezember hat sich die Debatte bereits spürbar beruhigt. Mit dem prägnanten Slogan »Get Brexit done« war es Johnsons Konservativen gelungen, die absolute Mehrheit im Unterhaus zu erringen. Der Widerstand der »Remainer« gegen den EU-Austritt war damit gebrochen. Das mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen wurde vom Parlament im Januar fast schon heimlich, still und leise ratifiziert.
Selbst die »Remainer« schauen nun nach vorne. Der junge EU-Befürworter Ilan Selby, der in Brüssel für zwei jüdische Organisationen arbeitet, ist davon überzeugt, dass man das demokratische Ergebnis der Volksabstimmung akzeptieren müsse, auch wenn es einem nicht gefalle. Zwar sei es im Zuge der Debatte zur Begrenzung der Einwanderung aus EU-Ländern zu einem Anstieg des Rassismus gekommen, aber auch die »Remainer« hätten gelegentlich das Thema ausgeschlachtet, sei es, um den »Brexiteers« pauschal Rassismus zu unterstellen oder, um in Schottland separatistische Bestrebungen anzufeuern.
Selby erwartet zwar keine kurzfristige Verbesserung der Lage durch den Brexit, sieht aber auch keine spezifischen Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft Großbritanniens. Der EU-Austritt habe zwar xenophobe Gefühle zum Wallen gebracht, aber nicht den Antisemitismus befördert.
Auch Julia Neuberger ist verhalten optimistisch, was die Zukunft angeht. Die Verletzungen der Brexit-Debatte können geheilt werden, glaubt sie, auch wenn das einige Zeit dauern werde. Immerhin sei die Fremdenfeindlichkeit, die man nach dem Referendum 2016 erlebt habe, wieder abgeebbt.
Zudem dürfe ein wichtiges positives Signal der Unterhauswahl vom Dezember nicht übersehen werden: Die britische Wählerschaft habe sich deutlich gegen den Antisemitismus in der Labour Party gewandt.
debakel Die Partei erlebte bei der Wahl ein regelrechtes Debakel, errang so wenige Unterhausmandate wie zuletzt 1935. Nicht nur bei jüdischen Wählern brach die Partei ein, auch viele Nichtjuden gaben an, die lasche Haltung des Labour-Chefs Jeremy Corbyn zum Antisemitismus sei bei ihrer Wahlentscheidung von zentraler Bedeutung gewesen – noch wichtiger als sein Versprechen, ein zweites Austrittsreferendum abzuhalten.
»Es erfüllt viele in der jüdischen Gemeinde hier mit Stolz, dass unsere Landsleute so denken«, freut sich Neuberger über die Solidarität an der Wahlurne. Corbyn und seine Nachfolger sollten darüber mal ernsthaft nachdenken, meint sie.
Alle Kandidaten für die Corbyn-Nachfolge haben bereits einen Zehnpunkteplan des jüdischen Dachverbandes Board of Deputies of British Jews unterschrieben und sich damit verpflichtet, energisch gegen jedwede Form des Judenhasses in der Partei vorzugehen, freut sich Sheila Gewolb.
Dennoch sind vor allem jüngere Briten über den Brexit ernüchtert. Etliche beantragten in den letzten Jahren andere EU-Staatsangehörigkeiten. Vor allem Irland verzeichnete einen starken Zuwachs. Für britische Juden ist vor allem der deutsche Pass relevant. Auch Rabbinerin Neuberger, deren Großvater vor dem Ersten Weltkrieg nach England kam, ist seit 2019 Deutsche.
EU-Austritt Gefragt nach den praktischen Auswirkungen des EU-Austritts auf die jüdische Gemeinschaft Großbritanniens sind sich Neuberger, Gewolb und Selby einig. Es gebe momentan keine Anzeichen dafür, dass Juden in besonderem Maße betroffen seien. Die Regierung kümmere sich um jüdische Anliegen, sagt Gewolb.
Möglich erscheint sogar, dass sich die Haltung der britischen Regierung gegenüber Israel zum Positiven hin verändern wird. Denn künftig muss sie weniger als bislang den Konsens mit anderen Staaten suchen. Im UN-Menschenrechtsrat hat Johnson sich bereits von den anderen EU-Staaten abgesetzt.
Es könne sogar sein, dass Johnsons Regierung auf den Kurs Donald Trumps und der USA einschwenke, glaubt Selby. Allerdings sei die israelkritische öffentliche Meinung in Großbritannien in dieser Frage auch ein Faktor, den es zu beachten gelte. Und die sei beim Nahostkonflikt nun einmal näher am Rest Europas als an der amerikanischen Haltung.