Eric Yoffie ist ein Reformrabbiner, der politisch eher links steht: Er hat sich mit evangelikalen Predigern angelegt, ist für die Schwulenehe und gegen unkontrollierten Waffenbesitz. Er trat vor der Islamic Society of North America in Chicago auf, wo er sagte: »Die Zeit ist gekommen, unseren muslimischen Nachbarn zuzuhören, wenn sie von Herzen und in ihren eigenen Worten über die sprituelle Kraft des Islam und ihre Liebe zu ihrer eigenen Religion sprechen.« Seit 1996 ist Eric Yoffie Präsident der Union for Reform Judaism in New York. Er gilt als einer der wichtigsten jüdischen Geistlichen in Amerika.
Herr Yoffie, Sie sehen Israels Existenz akut durch die iranischen Atombombenpläne bedroht. Ist diese Furcht nicht hysterisch?
Ich habe mich durch eine Serie von Artikeln gelesen, sehr seriösen Artikeln, die von verschiedenen Seiten die Frage beleuchten, ob iranische Politiker in ihrem Fanatismus eine Atomwaffe gegen Israel einsetzen könnten. Ich habe das Gefühl: Sobald wir auch nur eine solche Diskussion haben, sobald dies ein Thema wird, sobald ein Fall denkbar ist, in dem sie das tun könnten, haben wir die rote Linie längst überschritten. Für Israel ist das eine inakzeptable, eine existenzielle Bedrohung.
Wie meinen Sie das?
Ich habe einen Artikel von einem israelischen Wissenschaftler gelesen, in dem er darüber nachdenkt, was wohl die Verluste wären, wenn der Iran in Israel eine Atombombe hochgehen ließe. Kein Linker, kein Rechter – einfach ein Experte, der ein Szenario entfaltet. Seine Schätzung: Wahrscheinlich 200.000, möglicherweise 500.000 Tote, im schlimmsten Fall 800.000. Und ich dachte: völlig inakzeptable Szenarien! Israel hat sieben Millionen Einwohner – und uns soll beruhigen, dass »nur« eine Viertelmillion sterben würde? Sogar wenn der Iran seine Atomwaffe nie einsetzen würde, wäre die Lage schlicht zu gefährlich.
Israel hat immer mit Bedrohungen gelebt, sei es durch Krieg oder Terror.
Aber ein atomar bewaffneter Iran – das wäre der entscheidende Schritt zu weit. Es würde die Bevölkerung demoralisieren, Investoren und ausländische Firmen würden verscheucht, Teile der israelischen Elite würden sagen: Dies ist nicht mehr sicher – und würden fluchtartig das Land verlassen.
Wenn das sich wirklich so verhält – warum gibt es dann keinen Aufschrei unter den Juden Amerikas?
Formal ist die Haltung der jüdischen Gemeinschaft klar – auch die Haltung meiner eigenen Organisation. Es gibt Resolutionen und Papiere. Aber das Gefühl der Dringlichkeit im Alltag ist nicht groß genug. Zum Teil liegt das an der Unsicherheit. Die Leute fragen sich: Was können wir eigentlich tun, das hilfreich wäre? Zum Teil liegt das an einer gewissen Verwirrung: Es gibt jene Partei, die behauptet, die Bombe sei keine so große Gefahr, sie werde so bald nicht fertig sein, und es gibt die andere Partei, die glaubt, die Apokalypse stehe unmittelbar bevor. Zum Teil ist auch die Rechte schuld. Die Rechte hat diesen tiefen und gründlichen Hass auf Obama. Die amerikanischen Juden stehen aber politisch in der Mitte, oder sie sind links von der Mitte angesiedelt. Und die Leute, die in der Iranfrage am lautesten schreien, sind Leute, die ihren Präsidenten hassen. Die meisten amerikanischen Juden hassen ihren Präsidenten nicht. Und so kommt es, dass Juden, die eigentlich in diesem Punkt mit der Rechten übereinstimmen, sagen: Moment mal. Ich will nicht Teil dieser Bewegung sein.
Und die Linke?
Es gibt auf der Linken diese Zögerlichkeit, sich auf eine Weise zu engagieren, die als engstirnig wahrgenommen werden könnte, weil man sich für die eigene Sache statt für die breiteren amerikanischen Interessen einsetzt. Ich sehe diese Zögerlichkeit sehr kritisch. Zunächst mal: Warum sollte man sich nicht für die eigenen Interessen, die eigenen Werte einsetzen? Und letzten Endes stimmen die mit den amerikanischen Interessen überein. Es gibt keinen Grund, in dieser Frage schüchtern zu sein.
Warum stimmen Israels Interessen mit den amerikanischen überein?
Wegen der Frage der gemeinsamen Werte: Wir haben es hier mit fanatischen religiösen Führern zu tun. Aber auch deshalb, weil eine iranische Atombombe zu permanenter Instabilität im Nahen Osten führen würde. Die moderaten arabischen Staaten, die bis zu einem gewissen Grad mit Amerika alliiert sind, würden uns davonlaufen. Der Iran wäre eine unmittelbare Gefährdung für sie, sie würden also in sein Lager überwechseln. Das würde bedeuten, dass es nie einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern gibt. Zwischenstaatliche Beziehungen in der gesamten Region würden gestört. Das muss Amerika interessieren!
Wie sehen Sie Mahmud Ahmadinedschad, den iranischen Präsidenten?
Wenn Leute so reden wie er, muss man sie ernst nehmen. Das lernen wir aus der jüdischen Geschichte. Wenn jemand sagt, dass er uns vernichten will, kehren wir ihm nicht den Rücken, in der Annahme, dass er es schon nicht so meinen wird. Ironischerweise stumpft aber gerade die Tatsache ab, dass er seine Drohungen ständig wiederholt – und dass er manchmal als Verrückter präsentiert wird, was nicht sehr hilfreich ist.
Manche bezeichnen das Regime im Iran als faschistisch. Ist das nicht eine furchtbare rhetorische Übertreibung?
Natürlich ist es ein faschistisches Regime. Schauen Sie, wie es Frauen behandelt. Wie es Schwule behandelt. Wenn Sie ein Linker sind, ein Liberaler, der sich für Menschenrechte einsetzt, wie können Sie dann nicht sehen, dass das eine Ungeheuerlichkeit ist?
Welches Problem haben Linke dann eigentlich, das klar zu sagen?
Es hat vor allem damit zu tun, dass Amerika zurzeit zwei Kriege führt: im Irak und in Afghanistan. Beide sind im Moment nicht sehr populär. Die Aussicht, dass es noch mehr militärische Schläge geben könnte, erschreckt die Linken. Und Militärschläge könnten, jedenfalls in letzter Konsequenz, die Folge sein, wenn man fordert, der Iran müsse davon abgehalten werden, Atomwaffen zu entwickeln. Die Linke aber fragt sich vor allem, warum Obama nicht entschiedener vorgegangen ist, um diese beiden Kriege zu beenden.
Wie stehen Sie selbst dazu?
Jede Bedrohung muss eigens eingeschätzt und beurteilt werden. Und die Bedrohung durch den Iran ist echt.
Das Gespräch führte Hannes Stein.