Es schlug ein wie ein Donnerblitz: Im Juni 2009 schaffte die rechtsradikale Partei Jobbik mit knapp 15 Prozent der Stimmen auf Anhieb den Sprung ins Europaparlament. Wer an einen vorübergehenden Erfolg geglaubt hatte, sah sich getäuscht. Zehn Tage vor der ersten Runde der ungarischen Parlamentswahlen am 11. April ist die Partei so stark wie noch nie.
Krisztina Mórvai, Spitzenkandidatin der Partei bei den Europawahlen, steht derzeit auf Platz sechs in der Liste der beliebtesten Politiker des Landes. Letzten Umfragen zufolge kann die rassistische und antisemitische Partei Jobbik mit bis zu 20 Prozent der Stimmen rechnen. Damit könnte sie sogar die derzeit regierenden Sozialisten überflügeln und zweitstärkste Kraft werden.
In der jüdischen Gemeinschaft des Landes ist die Stimmung deshalb gedrückt. »Besonders die älteren Leute und Schoa-Überlebenden, die oft noch traumatisiert sind, haben Angst«, sagt Attila Novák, Redakteur bei der jüdischen Wochenzeitschrift Szombat. »Die öffentliche Meinung ist in den vergangenen Jahren sehr rechtslastig geworden. Heute sind Dinge zu hören, die früher undenkbar waren.«
Was läuft schief in Ungarn, der ehemals lustigsten Baracke des Ostblocks? Die Politik der sozialistischen Regierungspartei MSZP ist in den vergangenen Jahren stark in Misskredit geraten. Der Staat wirkt geschwächt, soziale Unsicherheit, Korruptionsfälle und nicht zuletzt eine schwere Wirtschaftskrise sind der Nährboden für rechtsradikales Gedankengut.
Am stärksten hat die größte Oppositionspartei Fidesz, deren Politiker selbst zeitweilig mit einem kodierten Antisemitismus arbeiteten, von der innenpolitischen Krise Ungarns profitiert. Seit der ehemalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány vor gut drei Jahren in einer öffentlich gewordenen Rede zugab, die Wähler belogen zu haben, verzeichnet Fidesz einen stetigen Stimmenzuwachs. Auch Gyurcsánys Nachfolger Gordon Bajnai konnnte die MSZP nicht aus dem Umfragetief holen. Nun möchte Fidesz eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichen, um allein zu regieren.
hass Zusammen mit der vor sechs Jahren gegründeten Jobbik-Partei kommt das rechte Lager auf rund 80 Prozent der Stimmen. Der Historiker und Publizist György Dalos, der im März den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt, zieht eine negative Bilanz der ungarischen Demokratie: »Es ist trotz des Wachstums vor ein paar Jahren nicht gelungen, die Angst der Menschen vor Verarmung zu verringern.«
Für gefährlicher und bedrohlicher als einen möglichen Erfolg der radikalen Rechten hält Dalos allerdings die allgemeine Hass-Atmosphäre, die im politischen Ungarn herrscht. Sie sei der eigentliche Grund für den Aufstieg von Jobbik, deren Anhänger aus der Mittelschicht kommen und zu denen auch viele Jugendliche und Studenten gehören. Sie verfolgten nicht mehr den altmodischeren Rechtsradikalismus eines István Csurka, der zwischen 1989 und 2002 im Parlament saß. »Es sind Rechte mit Internetanschluss, nicht unbedingt nur Wendeverlierer und Protestwähler. Aber sie operieren mit dem Gefühl, dass die Wende für breite Schichten wenig oder gar nichts gebracht hat«, analysiert Dalos.
Sorge Bei der jüdischen Bevölkerung ist die Sorge groß über den möglichen Rechtsruck in Ungarn, der sich bereits angekündigt hat. »Seit eine neue Bewegung wie die rechtsradikale Ungarische Garde sich auf öffentlichen Plätzen im ganzen Land zeigt und durch Dörfer marschiert, haben wir ungarischen Juden Angst«, sagt Rosa Deutsch, eine Holocaust-Überlebende aus Budapest. Umgekehrt hofft die jüdische Bevölkerung darauf, dass sich mit dem Einzug der Rechtsradikalen ins Parlament zumindest der Antisemitismus auf der Straße etwas abschwächt. Rassistische Äußerungen in der Volksvertretung sind möglich. Doch könnte Jobbik durch die tägliche parlamentarische Arbeit auch etwas gemäßigter auftreten, hofft Szombat-Redakteur Novák.
Ist die ungarische Demokratie überhaupt stark genug, einen solchen Rechtsruck auszuhalten? »Die Verantwortung aller Parteien ist gefragt«, findet György Dalos, »ein Konsens wäre nötig.« Doch der fehlt. Auch beim Verband der jüdischen Gemeinden in Ungarn (Mazsihisz) ist man beunruhigt über die Wahlprognosen für Jobbik. »Es täte Ungarn nicht gut, wenn eine solche Partei ins Parlament einziehen würde, die rassistische und antisemitische Parolen von sich gibt und das demokratische System nicht respektiert«, so Verbandschef Péter Feldmájer.
Mit der als sicher geltenden Wahlniederlage der MSZP verliert die traditionell den Sozialisten nahestehende Mazsihisz einen wichtigen Verbündeten in der Regierung. Für Feldmájer aber kein Problem: »Wir werden gut mit einer konservativen Regierung zusammenarbeiten, wenn sie sich klar von der radikalen Rechten abgrenzt.«
Allerdings könnte die Mazsihisz nach den Wahlen Konkurrenz bekommen. Bislang erhält sie als einzige offizielle Vertretung der jüdischen Gemeinschaft Geld vom Staat. Die ultraorthodoxe Bewegung Chabad Lubawitsch will dies mit dem Regierungswechsel ändern und sich ebenfalls ein Stück vom Kuchen sichern. Deshalb haben sich Chabad-Vertreter mehrfach auf Wahlkampfveranstaltungen von Fidesz gezeigt.
Ádám Schönberger, Gründungsmitglied des alternativen jüdischen Kulturzentrums Sirály im Zentrum Budapests, ist skeptisch, ob sich nach den Wahlen etwas an der Verteilung staatlicher Gelder ändert. Für ihn sind ohnehin die Sondertöpfe für Vereine wichtiger. »Wir würden uns freuen, wenn die staatlichen Förderstrukturen für Vereine reformiert würden und somit auch mehr Geld für jüdische Organisationen fließt. Aber das ist eher unwahrscheinlich.« Er hofft darauf, dass der Stellenwert der jüdischen Zivilgesellschaft auch unter einer konservativen Regierung steigt.
Hoffnung Einig ist man sich in Ungarn, dass es dem Land wirtschaftlich wieder besser gehen muss. Das wünscht sich auch die jüdische Gemeinde. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass die neue Regierung gegen antisemitische Kräfte in Parlament und Gesellschaft auftritt und nicht mit ihnen kokettiert. Innenpolitische Versöhnung wünscht sich der Historiker Dalos und mit Blick auf das ungarische Judentum »die Einhaltung der demokratischen Normen und insgesamt eine tolerante Haltung in der Gesellschaft«. Denn nur diese allgemeine und von einer Regierung gestützte Toleranz könne auch den Antisemitismus in Ungarn begrenzen. Und dann würde auch die rechtsradikale Partei Jobbik wieder aus der politischen Landschaft verschwinden.