Mehr als 10.000 Menschen haben am Donnerstagnachmittag beim 27. »March of the Living« in Polen teilgenommen. Delegationen aus 45 Ländern sind gemeinsam mit Schoa-Überlebenden die drei Kilometer lange Strecke vom ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Birkenau schweigend gegangen. Dabei haben sie an diejenigen, die in der Schoa ermordet wurden, erinnert.
Jede Delegation ist von einem Überlebenden begleitet worden, der seine Biografie erzählt. Wie schon in den Jahren zuvor wird der March of the Living auch diesmal von Israels früherem Oberrabbiner Yisrael Meir Lau angeführt, der als Kind die Schoa überlebte.
Wirkung »Das Auftauchen des Antisemitismus überall auf der Welt bringt uns noch mehr dazu, die Tage des Holocaust nicht zu vergessen«, mahnte der Oberrabbiner von Tel Aviv, Yisrael Lau, der die Schoa selbst als Kind erleben musste. »Ich glaube, dass der Marsch eine transformierende Wirkung auf alle Teilnehmer hat. Juden sehen sich anschließend etwas mehr als israelisch und können den Staat Israel besser verstehen. Israelis hingegen entwickeln ein tieferes Bewusstsein ihres Judentums.«
Viele der Menschen gehen den schweren Weg in die blau-weiße Flagge des jüdischen Staates gewickelt, um ihre Solidarität auszudrücken. Auch der Papst würdigt den Marsch der Lebenden. Franziskus schickte eine Botschaft aus dem Vatikan: »Ich möchte meine Verbundenheit für die Organisatoren und ihre Mission ausdrücken. Alle Mühen, für das Leben zu kämpfen, sind lobenswert und müssen ohne jegliche Diskriminierung unterstützt werden. Ich danke für all ihr Tun und bete zu Gott, dass er sie in ihrem Kampf für das Leben, die Gleichheit und Würde segnet«.
Sigmund Rolat, Holocaust-Überlebender aus Polen, erinnerte in einer bewegenden Rede, warum das Erinnern so bedeutsam ist: »Wenn ich die Wahl hätte, ich würde mich lieber nicht erinnern. Nicht an das Czestochowa Ghetto, in dem ich als Kind mit meiner Familie eingesperrt war. Nicht an die Ermordung meines Vaters und meiner Mutter, meines Bruders, anderer Familienmitglieder und meiner polnischen Kinderfrau, die im Ghetto blieb, weil sie ein jüdisches Kind liebte – mich.«
Warum also, fragte Rolat, sollte man sich den Holocaust ins Gedächtnis bringen, wenn man gar nicht unter ihm gelitten hat? Er nannte vier Gründe: »Aus Solidarität. Damit wir Überlebenden nicht länger mit den Erinnerungen allein sind. Jedes Mal, wenn der Horror bewusst gemacht wird, brechen wir ein Stück der Ghettowände, reißen etwas Stacheldraht nieder.« Der zweite Grund sei schlicht Anstand. Denn die Deutschen hätten nicht nur sechs Millionen Juden ermordet, sie nahmen ihnen auch ihre Erinnerungen fort.
Sudan Außerdem sei Angst ein wichtiger Grund, nicht zu vergessen. »Glaubt nicht die magische Beschwörungsformel von ›Nie wieder‹. Denn es ist wieder geschehen. In Bosnien, Sudan, Ruanda. In anderer Weise und gegen andere Völker. Die Schoa ist tragischerweise einzigartig, weil beispiellos. Doch jeder Genozid ist auf seine eigene Weise eine Tragödie.« Das vierte Argument, sagte Rolat, sei der Dank an jene, die ihre eigenen Leben riskiert haben, um Juden vor den Schornsteinen von Auschwitz zu retten, vor den Ghettowänden, vor dem Abgrund. »Wie meine Elka.«
»So stehen wir heute hier in Solidarität, Trauer und in Angst«, sprach der Überlebende dort, wo vor 70 Jahren die diabolischen Pläne der Nazis grauenvollste Realität wurden. »Erinnern ist das Einzige, was wir tun können.«
Seit 1988 haben mehr als 220.000 junge Menschen am March of the Living teilgenommen sowie Prominente wie der frühere israelische Staatspräsident Shimon Peres, Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel und Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey.
Auf www.motl.org wird der Marsch live übertragen.