»Jetzt sind wir zusammen eingesperrt«, sagt Irene Seidt. Sie meint damit die Gitterbegrenzungen, in denen die verschiedenen Gruppen des diesjährigen »Marsches der Lebenden« gemeinsam verharren, bevor sich der Zug vom Stammlager Auschwitz I ins drei Kilometer entfernte ehemalige Vernichtungslager Auschwitz-II-Birkenau in Bewegung setzt.
Seidt ist in die Zone israelischer Delegationen eingeladen worden. Die Stuttgarterin von der internationalen christlichen Botschaft hatte zuvor gemeinsam mit ihrer Mitstreiterin Anne-Marie Schübel die Israelin Nehama Mazalne umarmt, ihr eine Rose und einen Schal geschenkt. »Wir als Deutsche empfinden Scham angesichts dessen, was Deutsche ihrem Volk angetan haben«, sagte Schübel zu Mazalne, Mitarbeiterin im Büro des israelischen Premier- ministers. »Nicht alle Israelis würden das annehmen«, meint Mazalne anschließend, »aber sie hat es aufrichtig getan. Da kann ich sie nicht abweisen.«
ZWST Zehntausende Menschen sind an diesem Montag in das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz gekommen, um am 23. »Marsch der Lebenden« teilzunehmen – unter ihnen auch eine Delegation der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST): 22 junge Juden zwischen 20 und 35 Jahren aus ganz Deutschland. »Es war beeindruckend, es war imponierend, es hat tiefe Spuren hinterlassen«, sagt ZWST-Direktor Beni Bloch der Jüdischen Allgemeinen später am Telefon: »Man spürt die Verbindung zur Vergangenheit und schaut in die Zukunft«. Er wolle versuchen, in Zukunft jedes Jahr eine ZWST-Delegation zusammenzustellen.
Ein besonderes Gedenken gilt diesmal den ungarischen Juden, die von Mai bis Juli 1944 nach Auschwitz deportiert worden waren. Mehr als 500.000 jüdische Bürger des Landes hatten die Nazis verschleppt und fast alle in Auschwitz-Birkenau ermordet. Der ungarische Staatspräsident János Áder stellt sich mit mehreren Hundert jungen Juden aus Ungarn und aller Welt an die Spitze des langen Zuges.
Dann, nach dem Ertönen des Widderhorns, werden die Absperrungen beiseite geräumt, und die rund 10.000 Teilnehmenden setzen sich in Bewegung. Es beginnt zu regnen, genau in jenem Moment, doch das ist nur von kurzer Dauer. Eine ungarische Gruppe bleibt mit ihrer riesigen Landesfahne vor dem Eingangsschild »Arbeit macht frei« stehen. Dann bewegt sich der Zug weiter. Und die Menschen gedenken auf ganz unterschiedliche Weise.
Eine Gruppe israelischer Polizisten macht sich mit Fahnen und einer Torarolle auf den Weg. »Am Israel Chai«, singt eine Delegation älterer Israelis vorne im Zug. Direkt dahinter greifen junge Mitglieder der israelischen Organisation Heseg, die sich in der Heimat um »lone soldiers«, Soldaten ohne Familie, kümmert, die Klänge auf. Ihr Gesang ist trotzig, aber auch freudig. Eines der Heseg-Mitglieder ist Amir Mizrachi.
»Ich bin zum ersten Mal hier und habe selbst keine Vorfahren, die während der Schoa umgebracht wurden«, sagt der junge Mann. »Es ist immer eine persönliche Sache, aber auch, wenn ich keine familiäre Geschichte mit dem Ort verbinde, war es doch mein Volk, das hier gelitten hat.«
Zeitzeuge Zu jenen, die litten, aber überlebt haben, zählt auch Hank Brodt. »Ich bin in sechs Konzentrationslagern gewesen und am Ende doch gerettet worden«, erzählt der Amerikaner, der aus der ehemals polnischen Region um Lemberg stammt. Heute lebt er in North Carolina. Es hat lange gedauert, bis Brodt über die Vergangenheit überhaupt auch nur sprechen konnte. »Bis zum Jahr 2006 wollte ich nichts davon erzählen, denn es tut weh. Meine Töchter hielten mir das vor. Seither rede ich immer wieder vor Schülern über meine Erfahrungen. Selbst wenn ich nur zehn Prozent einer Gruppe wirklich erreiche, bin ich zufrieden«, sagt er, und sein Blick dabei ist eindringlich.
Brodt kommt aus der Gruppe von Fred Guttman. Der Rabbiner aus North Carolina in den USA nimmt schon zum 13. Mal am Marsch der Lebenden teil. Das Wichtigste sei, sagt er, dass Juden, aber auch alle anderen Menschen ein Zeichen setzten, dass Hass und Rassismus nicht länger Teil dieser Welt sein sollten: »Ich bin schon alt, und ich bin traurig darüber, dass ich diese Welt mit alldem zurücklassen soll.« Als Rabbiner und Erzieher sei es seine wichtigste Aufgabe, jungen Menschen aufzuzeigen, wie man das, was hier passiert sei, vermeiden könne.
lernprozess Schüler und Studenten machen das Gros der Teilnehmer aus, die an diesem Tag den drei Kilometer langen Weg zwischen dem Stammlager Auschwitz I ins KZ Auschwitz-II-Birkenau zurücklegen. Viele sind sichtlich bewegt, sie schreiten in geschlossenen Reihen voran, singen Lieder, halten ihre Fahnen diszipliniert in die Höhe oder umhüllen sich damit. Meist sind es israelische Flaggen.
»Die Entwicklung zeigt uns, dass unsere Kinder mehr das Leben zelebrieren, als der Toten zu gedenken«, sagt Rabbiner Eliot Pearlson aus Miami Beach in Florida. Das sei nicht zwingend richtig. Für viele Jugendliche sei der Marsch aber Teil eines Lernprozesses, den Pearlson als »erneute Bejahung und Bestätigung des Judentums« bezeichnet.
Je näher der Zug dem ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-II-Birkenau kommt, wo das Kaddisch und die Hatikwa erklingen sollen, desto langsamer geht es voran. Eine bunte Mischung an Sprachen ist zu hören, Fotos werden gemacht, die blauen Regenmäntel sind inzwischen verstaut. Mittendrin ist eine Teilnehmerin zu sehen, die noch eine der Rosen hält, die von den deutschen Frauen aus Stuttgart verteilt wurden. Die Frau ist sehr alt, sie schafft dennoch den ganzen Weg ohne jegliche Stütze. Und sie lächelt dabei.