Rom ist eine jüdische Frau. Eigentlich sind es drei: eine Gesundheitsmanagerin, eine Journalistin mit eigenen Erfahrungen in der Politik und die derzeitige Schuldezernentin der Gemeinde. Am Sonntag stimmen Roms Juden über einen neuen Gemeindevorstand ab.
Dieser wird dann aus seinen Reihen einen neuen Präsidenten wählen. Die zweite Amtszeit des derzeitigen Gemeindechefs Riccardo Pacifici (51) geht demnächst zu Ende. Ein drittes Mal darf er nicht antreten. So hat er es vor einiger Zeit selbst verfügt.
Schlagzeilen Die Wahl machte schon im Vorfeld Schlagzeilen, denn auf drei der vier Wahllisten stehen Frauen an der Spitze. Italiens Juden sind darüber nicht sehr überrascht, denn Frauen in Führungspositionen hat es bereits früher gegeben. So wurde 1978 die Journalistin Tullia Zevi Vizepräsidentin der jüdischen Dachorganisation UCEI (Unione delle Comunità Ebraiche Italiane). Fünf Jahre später übernahm sie das Amt der Präsidentin und übte es bis 1998 aus.
Nichtsdestoweniger ist die Tatsache, dass sich nun drei Frauen um das Amt des Gemeindepräsidenten bewerben, ein Zeichen dafür, dass sich in Rom etwas geändert hat. Die Gemeinde ist nicht nur Europas älteste, sondern mit ihren rund 15.000 Mitgliedern auch Italiens größte: Rund die Hälfte der italienischen Juden lebt in Rom. Und wie in anderen Teilen der Welt sind auch in Rom Frauen die Säulen des jüdischen Lebens. Ihr großes Interesse am Geschick der Gemeinde dürfte unter anderem »Binah« zugeschrieben werden. Das hebräische Wort bedeutet »Verständnis« und gilt gemeinhin als weibliche Eigenschaft.
Der Begriff Binah wurde 2012 von einer Gruppe römischer jüdischer Frauen als Name für ihre Liste gewählt, auf der ausschließlich weibliche Kandidaten standen. Im Juni desselben Jahres traten die Binah-Frauen bei den Wahlen für den neuen Vorstand der jüdischen Dachorganisation UCEI an – und hatten durchschlagenden Erfolg.
Sie kamen zu einer Zeit, da zwischen den drei politischen Strömungen, die Roms jüdische Gemeinde traditionell geführt hatten, Frieden herrschte: Mitte, Rechts und Links hatten sich gerade auf eine Einheitsliste geeinigt, die alle Sitze (20 von 49) bekommen sollte, die die UCEI üblicherweise für die römische Gemeinde reserviert. Als die Frauen von Binah die politische Bühne betraten, waren sie absolute Neulinge. Trotzdem errangen sie 39 Prozent der römischen Stimmen. Sie erhielten acht Sitze im UCEI-Vorstand und machten damit der Einheitsliste einen Strich durch die Rechnung.
Die Binah-Frauen erklärten damals, dass es ihnen nicht um Chancengleichheit geht. Vielmehr waren sie angetreten, weil sie davon überzeugt waren, dass »selbst, wenn Frauen derselben Meinung sind, es ihnen besser gelingt, Gemeinsamkeiten zu finden, denn sie können besser Gespräche führen und zuhören als Männer«.
Libyen Drei Jahre später sieht es so aus, als hätten die Juden Roms und ganz Italiens das Erlebnis mit Binah verdaut. »Die Frauenliste«, sagt Gesundheitsmanagerin Claudia Fellus (56), Binah-Spitzenkandidatin bei den Wahlen am 14. Juni, »hat weibliches Interesse geweckt. Allein das ist schon ein Sieg.« Fellus wurde 1959 in Tripoli geboren. 1967 kam sie nach Rom, gemeinsam mit Tausenden anderer libyscher Juden, die vor den antisemitischen Verfolgungen Gaddafis geflüchtet waren. Als observante Gruppe, stolz auf ihre tausendjährigen Traditionen, machen die aus Tripoli und Bengasi stammenden Juden heute ein Drittel der römischen Gemeinde aus.
»Ich bin glücklich darüber, dass es zwei weitere weibliche Kandidaten gibt«, sagt Fellus. »Das ist sogar noch wichtiger als die Tatsache, dass es vier Listen gibt«, fügt sie hinzu und wiederholt die alte Unzufriedenheit mit dem Konzept der Einheitsliste. »Auf Binahs Agenda steht ganz oben, die Finanzen der römischen Gemeinde wieder auf den richtigen Weg zu bringen, das jüdische Schulwesen zu erneuern und, last but not least, die Gemeinde trotz aller Unterschiede zusammenzuhalten.«
Die Gründung von Binah hat die starke Präsenz von Frauen im jüdischen Leben Roms zu einer Tatsache gemacht. Allerdings teilen nicht alle die Ansicht, dass es ein politisches Instrument geben muss, das ausschließlich Frauen offen steht. Die Journalistin und Rabbinatsstudentin Iaia Shulamit Vantaggiato hat gewisse Zweifel daran: »Ich sehe viele Parallelen zwischen dem, wie jüdische Frauen zu Hause handeln und wie sie in der Öffentlichkeit agieren. Sie schaffen Beziehungen und haben einen Blick fürs Praktische – wohingegen Männer eher zum Philosophieren neigen.«
Obwohl sie schon lange Feministin sei, glaube sie inzwischen mehr an Unterschiede als an Gleichberechtigung, betont Vantaggiato. »Ich schätze Claudia Fellus und ihr Team. Aber ich denke, eine Liste ausschließlich für Frauen neigt zur Nabelschau. Ich persönlich würde nicht nur deshalb gewählt werden wollen, weil ich eine Frau bin, sondern wegen meiner Kompetenzen.«
Eine der anderen drei Listen heißt »Für Israel«. An ihrer Spitze steht die scheidende Schuldezernentin Ruth Dureghello (48). »Ich bin weder Feministin noch Moralistin«, betont sie, »und wenn drei Frauen für die Wahl ins selbe Amt antreten, dann umso besser. Das heißt nur, dass sie auf diese Aufgabe offenbar gut vorbereitet sind.«
Berlusconi Die dritte Kandidatin ist Fiamma Nirenstein (70). Sie führt die Liste »Wir sind Israel«. Nirenstein ist in der politischen Szene Italiens ein Name, an dem sich die Geister scheiden. Die in Florenz geborene Journalistin ist Mitglied der Partei Forza Italia des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und war in dessen Amtszeit Vizesprecherin des Auswärtigen Ausschusses im italienischen Parlament.
Bestimmt und selbstbewusst ist sie eine vorbehaltlose Verteidigerin Israels. Vor vier Jahren wurde sie zur Vorsitzenden des Internationalen Rates Jüdischer Parlamentarier gewählt. »Ich stelle meine ganze Erfahrung in den Dienst der römischen Gemeinde«, wirbt sie um die Gunst der Wähler. »Ich habe immer Israel und dem Judentum gedient, und ich glaube, dass ich der römischen Gemeinde die internationale Würde geben kann, die sie verdient.«
Europas Juden seien voller Angst wegen des wiedererstarkenden Antisemitismus, erklärt sie. »Meine Kämpfe können für viele ein Licht der Hoffnung sein, und mein Traum ist, Rom an die Spitze einer Wiedergeburt des europäischen Judentums zu stellen.« Darüber, dass drei von vier Kandidaten weiblich sind, sagte Nirenstein kürzlich: »Es ist eine gute Sache. Es zeigt, dass die Gemeinde an Intelligenz und Reife gewonnen hat und bereit ist für mehr Erneuerung.«
Der einzige Mann unter den Spitzenkandidaten ist der Unternehmer Maurizio Tagliacozzo (52). Er führt die Liste »Menorah«. Die Programme der vier Listen seien einander insgesamt ziemlich ähnlich, sagt er. »Allein in unseren politischen Ansichten gibt es ein paar Unterschiede. Menorah ist die einzige Liste, die weniger Schlagzeilen garantieren kann.«
Der scheidende Gemeindechef Riccardo Pacifici ist wiederholt dafür kritisiert worden, dass er zu stark auf dem Gebiet der Politik agiert und in den italienischen Medien zu präsent ist. »Viele römische Juden mögen diese Schlagzeilen nicht«, sagt Tagliacozzo. »Wir müssen manches der UCEI überlassen. Es ist ihre Aufgabe, alle italienischen Juden zu repräsentieren.« Über seine Konkurrentinnen sagt er: »Die römische Gemeinde ist modern genug, um den Respekt gegenüber der Orthodoxie mit einer stärker weiblichen Rollenverteilung zu kombinieren. Das Geschlecht darf in Beziehungen nie ein Nachteil sein.«