Die Übernahme der Amtsgeschäfte fand ganz im Stillen statt. »Ohne jegliche Öffentlichkeit hat Yossi Ben David, selbst marokkanisch-jüdischer Herkunft, die Leitung der diplomatischen Vertretung Israels in Rabat übernommen«, hieß es unter anderem auf der Onlineplattform »African Intelligence«. Anders dagegen war es bei seinem Stellvertreter, dem arabischen Israeli Hassan Kaabia. Dessen Ernennung war durchaus ein Thema in den Medien, nicht zuletzt deshalb, weil sich der ehemalige Sprecher des israelischen Außenministeriums aus Sicht vieler Marokkaner abfällig über die Hamas geäußert hätte. Entsprechend negativ fielen die Kommentare aus.
Auf Ben David und Kaabia wartet keine leichte Aufgabe. Denn das Verhältnis zwischen beiden Staaten ist durch die Ereignisse des 7. Oktober 2023 und dem daraus resultierenden Krieg komplexer geworden. Einerseits wächst in Marokko aufgrund der Sympathien für die Palästinenser die Opposition gegen die Normalisierung mit Israel. Es kam zu großen Demonstrationen, auf denen der Abbruch der Beziehungen gefordert wurde, zuletzt gingen Zehntausende am 6. Oktober auf die Straße. Andererseits besteht eine enge militärische Zusammenarbeit, beispielsweise lieferte Israel Hightech-Waffen an die marokkanische Armee, die wichtig für die Kontrolle über die Westsahara sind. Das macht das Ganze für alle Beteiligten zu einem Drahtseilakt.
Israelischer Tourist verhaftet
Aktuell gibt es zudem einen weiteren Fall, der zu einer Belastungsprobe werden könnte. Im Juli war in Marrakesch der israelische Tourist Moshe Avichzer verhaftet worden. Man wolle ihn vor Gericht bringen, heißt es. Die Anklage lautet Kriegsverbrechen. Vor seiner Reise nach Marokko war Avichzer drei Monate lang als Soldat im Gazastreifen im Einsatz und postete Fotos aus dieser Zeit in den sozialen Medien. Was er nicht ahnen konnte: Propalästinensische Aktivisten in Marokko scannten die sozialen Medien nach genau solchen Aufnahmen, hatten ihn identifiziert und seine Verhaftung veranlasst.
All das bleibt nicht ohne Folgen für die rund 4500 Juden in Marokko, immerhin die größte jüdische Gemeinschaft in der arabischen Welt. »Angesichts der Ausmaße der Massaker des 7. Oktober wussten wir sofort, dass die Situation ernst ist«, so Raphael Trojman, ein in Rabat geborener Besitzer mehrerer Hotels in Marrakesch, Casablanca und Fes, gegenüber dem Jewish News Syndicate (JNS). Fast alle seine Gäste aus Israel seien sofort abgereist. »Wir schlossen unsere koscheren Restaurants, die wir in marokkanischen Hotels eingerichtet hatten, und stoppten alle unsere koscheren Entdeckungstouren.« Und so sei es seither geblieben. Nur wenige Israelis kommen derzeit nach Marokko.
Das Verhältnis zwischen den Juden in Marokko und dem Königshaus ist ein besonderes.
Neben den Sozialisten ist es vor allem die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die zwischen 2011 und 2021 Marokkos Ministerpräsidenten stellte und nun gegen Israel mobil macht. »Während des Arabischen Frühlings waren die Juden in Marokko sehr besorgt, dass die Monarchie ins Visier genommen werden könnte«, ergänzt Eric Benabou, ein jüdischer Geschäftsmann aus Agadir. »Doch der König hat die Situation sehr gut gemeistert. Daher vertraue ich darauf, dass es diesmal nicht viel anders sein wird.«
Damit bringt Benabou das besondere Verhältnis zwischen Marokkos Juden und dem Königshaus auf den Punkt. Denn die jüdische Gemeinschaft, die noch vor 80 Jahren fast 300.000 Menschen zählte, kann auf rund 2000 Jahre Präsenz im Land zurückblicken. Als Kaufleute und Finanziers des Sultans nahmen sie eine zentrale Rolle im wirtschaftlichen und politischen Leben ein, jüdische Händler dienten oftmals als Emissäre bei Verhandlungen mit europäischen Herrschern oder den Vereinigten Staaten.
»Mächtigster Jude der muslimischen Welt«
Diese Tradition existiert weiterhin. So hatte König Hassan II. 1991 den 1941 in Essaouira geborenen ehemaligen Vizepräsidenten der französischen Bank Paribas, André Azoulay, zu seinem Berater in wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten ernannt, eine Funktion, die »der mächtigste Jude in der muslimischen Welt«, wie ihn das »Tablet Magazine« einmal bezeichnete, auch unter seinem Nachfolger, König Mohammed VI., beibehielt. Serge Berdugo, ein Anwalt und Politiker aus Meknes, ist ein weiterer prominenter Jude. Er war in den 90er-Jahren Tourismusminister und ist seit 2006 Sonderbotschafter des Königs.
Doch auch Azoulay, der sich zeitlebens für einen Dialog zwischen Muslimen und Juden eingesetzt hatte, ist nun in die Schusslinie geraten. So lautete einer der Slogans, der auf den anti-israelischen Demonstrationen skandiert wurde: »Der Berater ist ein Zionist.«
All das verweist auf die problematische Situation der Juden in Marokko. Bereits 2003 hatte ein islamistischer Anschlag auf jüdische Einrichtungen in Casablanca mit 41 Toten das Sicherheitsgefühl zutiefst erschüttert. Nach dem 7. Oktober mussten alle Schutzmaßnahmen für Synagogen, Schulen und Altenheime nochmals drastisch verschärft werden. Und aus Furcht vor Übergriffen macht man sich nun lieber unsichtbar. Auch wurden Pilgerfahrten zu den Gräbern prominenter Rabbiner, wie dem von Rabbi Chaim Pinto in Essaouira, zu denen jedes Jahr Tausende Menschen aus Israel, Frankreich und den USA anreisen, für dieses Jahr weitestgehend abgesagt.
Seit dem 7. Oktober 2023 herrscht in der jüdischen Gemeinschaft Marokkos Verunsicherung.
Die Tatsache, dass im Rahmen der Verfassungsreform von 2011 Marokko als einziges muslimisches Land die jüdische Kultur als grundlegendes Element seiner Identität anerkannt hat, jüdische Geschichte seitdem zum Lehrplan im Schulunterricht gehört und zahlreiche Synagogen sowie jüdische Friedhöfe restauriert wurden, erfüllt viele Juden des Landes mit Stolz. So wie der Bau einer Synagoge auf dem Campus der Mohammed VI. Polytechnischen Universität in Marrakesch, dem wohl einzigen neuen jüdischen Gotteshaus in der gesamten arabischen Welt, das 2022 feierlich eingeweiht wurde. »Die Eröffnung einer Synagoge auf dem Gelände einer marokkanischen Universität, die nach Seiner Majestät, dem König, benannt ist, ist von großer Bedeutung«, so Rabbi Elie Abadie vom Jewish Council of the Emirates, der zu diesem Anlass nach Marokko gereist war.
Allerdings gibt es keinen einzigen jüdischen Studenten an dieser Universität. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, dachte man sich damals. Im Rahmen der Annäherung an Israel war auch der Austausch mit israelischen Universitäten geplant. Doch das war vor dem 7. Oktober. Nun herrscht in der jüdischen Gemeinschaft Verunsicherung – daran ändern weder die Protektion des Königshauses noch die eigenen Loyalitätsbekundungen gegenüber Land und Herrscher etwas. Und um die Sache noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon ist: Einer der führenden Köpfe der anti-israelischen BDS-Bewegung in Marokko heißt Sion Assidon und ist selbst Jude.