Baden

Dort geehrt, hier vergessen

Zwei Forscher wollen die Geschichte zweier Schoa-Überlebender bekannter machen

von Anja Bochtler  26.07.2020 06:55 Uhr

Der damalige Präsident Barack Obama ehrt Gerda Weissmann-Klein 2011 im Weißen Haus mit der »Medal of Freedom« für ihre Verdienste. Foto: picture alliance / dpa

Zwei Forscher wollen die Geschichte zweier Schoa-Überlebender bekannter machen

von Anja Bochtler  26.07.2020 06:55 Uhr

Es gibt viele berührende Ereignisse im Leben von Gerda Weiss-
mann und Kurt Klein. Doch ein ganz besonderer Moment ist der, als Kurt Klein, der damals fast 25 Jahre alte amerikanische Soldat, im Mai 1945 der 21-jährigen Gerda Weissmann die Tür aufhält. Was wie eine Belanglosigkeit wirkt, hat für sie weitreichende Bedeutung. Das beschreibt sie später in ihrem Buch Nichts als das nackte Leben.

Gerda Weissmann ist eine der wenigen jüdischen Überlebenden eines Todesmarsches, die in einer Fabrikhalle im tschechischen Volary ausharrten, bis die amerikanischen Befreier kamen. Unter ihnen ist Kurt Klein. Er wird ihr Ehemann, und die Geschichte der beiden wird in den USA berühmt. In Deutschland aber ist sie fast vergessen.

Geste Die kleine Geste von Kurt Klein bei ihrer ersten Begegnung ist für Gerda Weissmann ein Wendepunkt. »Er tat so, als ob er den Schmutz und die Läuse nicht gesehen hätte«, schreibt sie in ihrem Buch. In Interviews erzählt sie, in diesem Moment habe sie das Gefühl gehabt, als bekomme sie ihre Würde zurück.

Gerda Weissmann wiegt zu dem Zeitpunkt kaum mehr als 30 Kilo. Sie ist so geschwächt, dass sie die folgenden Monate im Lazarett verbringen muss, wo sie lebensgefährlich an Lungenentzündung und Typhus erkrankt. Seit Januar 1945, als der Todesmarsch begann, musste sie das Sterben ihrer Freundinnen und der meisten anderen der anfangs 2000 jungen Frauen mitansehen, von denen nur 150 überleben.

Kurt Klein kommt ihr vor wie ein Held aus einer anderen Welt, eine Verkörperung der Freiheit.

Kurt Klein kommt ihr vor wie ein Held aus einer anderen Welt, eine Verkörperung der Freiheit. Dass sie jemand respektvoll behandelt, kennt sie nicht mehr. Und so ist sie überzeugt, dass er nicht wissen kann, wer sie ist. Es kostet sie Mut, ihm zu sagen: »Wir sind Juden.« Er entgegnet ganz selbstverständlich: »Ich auch.« Erst nach und nach wird Gerda Weissmann erfahren, dass sie und Kurt Klein vieles verbindet, obwohl sie den Nationalsozialismus auf sehr unterschiedliche Weise überstanden haben.

BRIEFE Mit der Geschichte von Kurt Klein beschäftigen sich seit Kurzem Menschen in seiner alten Heimat: Zu Kleins 100. Geburtstag am 2. Juli hatte Wolfgang Widder in der kleinen Stadt Walldorf in der Nähe von Heidelberg mit Unterstützern eine große Veranstaltung geplant. Wegen Corona musste sie stark verkleinert werden.

Widder, kein Historiker, sondern Psychologe, erzählt, dass er zufällig auf Kurt Klein stieß: bei Planungen zur Feier des 1250. Jubiläums von Walldorf. Bei den Vorbereitungen fand er Texte, in denen ein Forscher Kurt Klein und seine Familie schon vor Jahrzehnten kurz erwähnt hatte. Wolfgang Widder blieb dran. »Dass so etwas quasi in meiner Nachbarschaft auftaucht, hat mich elektrisiert«, sagt er.

Der Briefwechsel der Familienmitglieder während der Nazizeit ist nur noch auf Englisch zugänglich. Denn Kurt Klein hat die Briefe in die Sprache seiner neuen Heimat übersetzt und sie dort veröffentlicht. Die deutschen Originale sind bei seiner Frau Gerda, die im Mai 96 Jahre alt wurde und in einer Seniorenresidenz in Arizona lebt. Kurt Klein ist 2002 mit 81 Jahren gestorben.

Die Briefe erzählen das furchtbare Dilemma, das im Nationalsozialismus unzählige jüdische Familien durchlitten haben: Kurt Klein, dem jüngsten von drei Kindern von Ludwig und Alice Klein, gelingt 1937 die Flucht in die USA. Seine Schwester Irmgard war dort bereits 1936 angekommen, der Bruder Max folgt 1938.

GURS Die drei Geschwister bemühen sich jahrelang mit großem Einsatz, auch ihren Eltern die Einreise zu ermöglichen. Ludwig Klein hatte in Walldorf einen Handel mit landwirtschaftlichen Produkten betrieben, bis ihm die Nazis Ende der 30er-Jahre sein Geschäft entzogen.

In ihren Briefen deuten Alice und Ludwig Klein an, wie ihr gewohnter Alltag immer mehr schwindet und die Repressalien zunehmen. Sie schreiben über Freunde und Verwandte, die es ins Exil geschafft haben, und immer wieder von ihren eigenen kraftzehrenden Bemühungen um die Emigration. Alles ist beherrscht vom ständigen Kampf um Ausreisepapiere, Bürgschaften, die ihre Knder für sie übernehmen wollen, und Terminen beim Konsulat.

Im Oktober 1940 dann sind sie unter den 6540 Juden aus Baden, die ins südfranzösische Lager Gurs nahe der Pyrenäen deportiert werden. Jetzt bitten die Kleins ihre Kinder, ihnen Geld und Essen zu schicken.

In den USA sind Gerdas Memoiren so berühmt wie Anne Franks Tagebuch.

Doch auch von Gurs aus kreisen ihre Briefe weiter um ihr großes Ziel, die Emigration. Mehrmals haben sie bereits die Schiffspassage gebucht, doch jedes Mal kommt eines der Papiere, die immer wieder neu ausgestellt werden müssen, nicht rechtzeitig vor der Abfahrt an. Im September 1942 werden Kurt Kleins Briefe an seine Eltern als unzustellbar an ihn zurückgeschickt.

Zwei Monate später erteilt das US-Konsulat in Marseille die Visa-Erlaubnis für die Kleins. Doch es ist zu spät: Zehn Wochen zuvor wurden sie von Gurs nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass zermürbende, jahrelange Kämpfe um die Ausreise erfolglos blieben, war kein Einzelfall, sondern die Regel.

VISA-POLITIK Das lag an der amerikanischen Visa-Politik, sagt Anja Schüler vom Heidelberg Center for American Studies: Offiziell sei die Quote für Zusagen im Laufe der Jahre auf 25 Prozent festgesetzt worden, in Wirklichkeit habe sie aber oft sogar noch weit darunter gelegen. Die Handlungsanweisungen an die Konsulate hätten dazu geführt, dass manche Konsulate praktisch überhaupt keine Visa mehr erteilt hätten.

Anja Schüler war durch Wolfgang Widder auf das Thema aufmerksam geworden. Zusammen kontaktierten sie Jim Klein, den Sohn von Kurt und Gerda, und eine Enkelin. Anja Schüler hofft, dass die Briefe der Kleins wieder im deutschen Original zugänglich werden. »Eine Gesamtedition aller Briefe der Familienmitglieder wäre ein lohnendes Projekt«, sagt sie.

DEPORTATION Doch nicht nur die Kleins hätten Aufmerksamkeit verdient, sondern auch das Buch von Gerda Weissmann-Klein, das sie 1957 geschrieben hat. Gerda Weissmann-Klein beschreibt mit großer Sensibilität und erzählerischer Kraft, wie sich ihr Leben, das ihrer Eltern und des vier Jahre älteren Bruders Arthur im polnischen Bielitz mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 verdüstert.

Zu dem Zeitpunkt ist Gerda 15 Jahre alt. Ihr Vater Julius Weissmann ist Inhaber einer Pelzfabrik, seine Ehe mit Helene Weissmann harmonisch, das Verhältnis zu den Kindern liebevoll. Schritt für Schritt stürzt diese Welt zusammen. Als Arthur sich bei den Deutschen registrieren lassen und in eine ungewisse Zukunft abfahren muss, sieht Gerda ihren Vater zum ersten Mal weinen. Sie wird ihren Bruder nie wiedersehen, doch seine Aufforderung an sie, stark zu bleiben, begleitet sie durch alles, was danach geschieht.

Zunächst kann sie mit ihren Eltern zusammenbleiben, auch wenn die Familie in ihrem eigenen großen Haus in den feuchten Keller verbannt wird. 1942 werden die Weissmanns auseinandergerissen und deportiert. Als Gerda und ihre Mutter voneinander getrennt werden, ruft nach dem Bruder nun, drei Jahre später, auch die Mutter ihr zu: »Sei stark!«

STÄRKE Diese innere Stärke, die Gerda tatsächlich immer wieder neu beweist, begleitet sie durch die kommenden Jahre, die geprägt sind von Zwangsarbeit in Textil- und Rüstungsfabriken und dem Leben in einem Durchgangslager in Susnowitz und verschiedenen Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Und von engen Freundschaften zu Mädchen, die sie aus ihrem früheren Leben kennt und nun zufällig wiedertrifft. Sie werden wie eine Ersatzfamilie für sie.

Doch auch sie verliert sie und bleibt immer wieder schmerzlich allein zurück. Am Ende des Todesmarsches im Januar 1945, rund 500 Kilometer von Grünberg über Dresden und Chemnitz nach Volary, stirbt ihre engste Vertraute Ilse in ihren Armen.

Es wirkt unwirklich, als dann Kurt Klein auftaucht. Nach der ersten kurzen Begegnung besucht er sie regelmäßig im Sanatorium. 1946 heiraten sie, für Gerda Weissmann beginnt in Buffalo ein neues Leben.
Sie hält sich an Kurt Kleins Aufforderung, nur noch Englisch zu sprechen, und erkennt später, dass ihr die fremde Sprache half, Distanz zu gewinnen und die Schrecken hinter sich zu lassen.

Ihr neues Leben in den USA, ihre drei Kinder und später die acht Enkel haben sie nicht davon abgehalten, sich zu erinnern und zu erzählen

Doch ihr neues Leben in den USA, ihre drei Kinder und später die acht Enkel haben sie nicht davon abgehalten, sich zu erinnern und zu erzählen: zuerst, schon im Herbst 1946, der Ortsgruppe der Jewish Federation in Buffalo, viel später an unzähligen Schulen und anderen Orten, unter anderem 2006 bei den Vereinten Nationen zum Internationalen Holocaust-Gedenktag.

MEDAILLE 2011 erhielt Weissmann die amerikanische Freiheitsmedaille, ihr Buch erschien in den USA in 66 Auflagen und gilt dort als so bekannt wie Anne Franks Tagebuch. Sie und Kurt Klein wurden vielfach interviewt und ausgezeichnet, es gibt ein Theaterstück und Filme. Beide engagierten sich vielfältig für andere, darunter für Einwanderer, gründeten eigene Stiftungen.

In Deutschland, wo das Buch einst im Rowohlt- und später im Weltbild-Verlag erschien, ist es – bis auf ein paar Ausgaben in Antiquariaten – nicht mehr präsent. Und mit ihm die Geschichte des Ehepaares. Warum? Das können sich weder Wolfgang Widder noch Anja Schüler erklären. Klar ist aber: Sie wollen das ändern.

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