Rund um die prächtige Synagoge in der Bernard-Shaw-Straße spazieren am Wochenende viele jüdische Familien durch die Parks. »Polanco ist das Stadtviertel, wo sich das jüdische Leben in Mexiko-Stadt mittlerweile konzentriert«, erklärt Isaac Jamal. Der junge Mann arbeitet für die Maguen-David-Gemeinde. Seine Familie wanderte Ende der 60er-Jahre vom Libanon nach Mittelamerika aus.
Damals war die Sicherheitslage in Mexiko weitaus besser als heute. Inzwischen vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht von neuen Morden im Milieu der Drogen- und Menschenschmuggler hört. »Da ist es schön zu wissen, dass wir uns in Polanco frei bewegen können«, sagt Jamal. Der mondäne Stadtteil beherbergt nicht nur zahlreiche diplomatische Vertretungen, Luxusrestaurants und Boutiquen, sondern auch vier Synagogen und eine ganze Reihe von Geschäften mit koscherem Angebot.
Zurückhaltung »Seit den 60er-Jahren hat sich das jüdische Leben aus dem Zentrum der Stadt mehr und mehr in den Osten verlagert«, sagt Mauricio Lulka. Der Generaldirektor des Zentralkomitees der jüdischen Gemeinde ist ein zurückhaltender Mann. Das passt gut zu einer Gemeinde, die keine Aufmerksamkeit erregen will, die gute Kontakte zur mexikanischen Politik pflegt, aber auch zahlreiche imposante Einrichtungen wie das größte jüdische Sportzentrum Lateinamerikas unterhält.
Dort, im »Centro Deportivo Israelita«, finden nicht nur Sportwettkämpfe der Gemeinde, sondern auch viele Kulturveranstaltungen statt. Vor allem am Wochenende ist auf dem zehn Hektar großen Gelände viel los. »Hier treffen sich Orthodoxe wie Reformjuden – das Gemeinsame steht über dem Trennenden«, so Mauricio Levy Tacher. Er ist Chef der Einrichtung, die rund 17.000 Mitglieder zählt. Das ist mehr als ein Drittel der rund 45.000 Juden im Land.
Doch anders als früher ist es heute nicht mehr selbstverständlich, Mitglied im jüdischen Sportzentrum zu sein. Das Zentrum bekommt die schlechte wirtschaftliche Situation des Landes und die Konkurrenz von Sportangeboten in den Wohnvierteln direkt zu spüren.
Viele Juden sind in den 50er- und 60er-Jahren aus den zentralen Vierteln wie Roma und Condesa nach Polanco, Bosques de las Lomas oder Lomas de Chapultepec im Osten der Hauptstadt gezogen.
Kultur Umgeben von Residenzen und Apartmenthäusern befindet sich in Lomas de Chapultepec das unscheinbare, gelb angestrichene Gebäude, in dem das Zentralkomitee und die »Tribuna Israelita«, die Kultur- und Öffentlichkeitsorganisation der Gemeinde, untergebracht sind. Sie wird von Renee Dayán-Shabot geleitet. »Wir arbeiten eng mit dem jüdischen Sportzentrum zusammen, organisieren dort auch Veranstaltungen, aber unsere finanziellen Möglichkeiten sind begrenzt«, sagt die Kommunikationsexpertin.
Sinkende Zuwendungen machen den Gemeindeinstitutionen allerorten zu schaffen. Es werde zurzeit deutlich mehr Geld benötigt als früher, gibt Lulka zu. »Familien, deren Geschäfte pleitegegangen sind, brauchen Unterstützung. Mexikos Wirtschaft wächst zwar, aber nur auf niedrigem Niveau. Deshalb sind die Sozialprogramme der Gemeinde stärker gefordert.« Aus diesem Grund begrüßen Lulka und Dayán-Shabot die Reforminitiativen der Regierung von Staatschef Enrique Peña Nieto. Sie hoffen auf Impulse für die Gemeinde, die in Mexiko-Stadt ausgesprochen gut integriert ist. Die Beziehungen zu den Behörden seien exzellent, so Lulka.
Seit mehr als 100 Jahren arbeiten jüdische Institutionen mit dem Staat zusammen. Zwar kamen die ersten Juden bereits mit dem spanischen Eroberer Hernán Cortes in die neue Welt, aber erst 1912 wurde die erste jüdische Organisation gegründet, die »Alianza Monte Sinaí«, die Vereinigung Berg Sinai. »Mit ihr beginnt der institutionelle Austausch zwischen jüdischen Organisationen und dem mexikanischen Staat«, so Mauricio Lulka. Er gehörte zu den Festrednern bei der Einweihung eines Einwandererdenkmals kürzlich im Hafen von Veracruz.
Lulkas Kollegin Dayán-Shabot hat im Umfeld des Events Ausstellungen und Lesungen zur jüdischen Geschichte organisiert. Die begann für 90 Prozent der jüdischen Einwanderer im Hafen von Veracruz, wo nun eine eindrucksvolle 40 Tonnen schwere Statue des Architekten Jacobo Micha Mizrahi steht.
Solidarität Dass die jüdische Gemeinde sich nach außen präsentiert, ist ungewöhnlich. Üblicherweise setzt sie auf Diskretion. Und auf Solidarität – nach innen und nach außen. Kaum jemand weiß, dass »Cadena«, eine der aktivsten Hilfsorganisationen Mexikos, einen jüdischen Background hat.
Bei der Explosion im Pemex-Tower, der Zentrale des mexikanischen Erdölkonzerns, im Januar 2013 war es Cadena, die über das nötige Hightech-Equipment verfügte, um Verschüttete zu orten. Auch bei den immensen Schäden, die im Sommer vergangenen Jahres zwei Hurrikans in Mexiko verursachten, waren die oft jugendlichen Cadena-Aktivisten sofort zur Stelle und transportierten mit den Streitkräften Hilfsgüter in die Regionen. »Dabei erfolgt die Übergabe aber immer direkt an die Betroffenen – das ist eine Grundregel«, so Gemeindechef Lulka. In Mexiko, wo ein Korruptionsskandal den nächsten jagt, ist dies durchaus sinnvoll.
Lulka würde dies aber nie offen zugeben, das verbietet die Diskretion. Seinen Stolz auf den sozialen Einsatz seiner Gemeinde lässt er aber sehr wohl durchschimmern. Dieses Engagement hat die Gemeinde in einem prächtigen Bildband festgehalten. Der wird jedoch nur selten von Lulka verschenkt – unnötige Aufmerksamkeit für das Wirken der Gemeinde ist schließlich nicht erwünscht.