Man sieht ihr an, dass sie Zeit ihres Lebens eine aktive Turnerin war. Selbst mit ihren nunmehr 90 Jahren wirkt Éva Fahidi-Pusztai nur auf den ersten Blick zerbrechlich, sie bewegt sich wie eine 20 Jahre jüngere Frau, die zudem noch eine Menge im Leben vor hat. »Ich werde die letzte Überlebende in Ungarn sein, weil ich es so will«, erklärt sie sehr selbstbewusst in ihrem charmant ungarisch eingefärbten Deutsch und bezeichnet sich als eine »Holocaust-Aktivistin«, deren Mission es ist, als Zeitzeugin so vielen Menschen wie möglich von der Schoa zu berichten. »Denn ich habe wie wohl die meisten Überlebenden jahrzehntelang geschwiegen.«
49 Verwandte, darunter ihre Mutter sowie ihre jüngere Schwester, hat die 1925 als »Kind einer riesengroßen bürgerlichen und typisch ungarisch-jüdischen k. u. k.-Familie« geborene Fahidi-Pusztai verloren. Seit rund einem Vierteljahrhundert schweigt sie nicht mehr, hat ihre Erinnerungen in einem Buch niedergeschrieben und trifft vor allem junge Erwachsene, wie jetzt auch in der diplomatischen Vertretung ihres Heimatlandes in Berlin, wo sie mit Juden aus Deutschland und Ungarn sprach.
zeitzeugen »Ich bewundere ihre Kraft und ihren Mut, über die Schrecken zu sprechen«, lautete denn auch die spontane Reaktion von Michaela Fuhrmann auf das Gehörte. »Gerade weil man es eigentlich nicht in Worten auszudrücken vermag, was damals passiert ist, sind Zeitzeugen unglaublich wichtig«, sagt die Leiterin der Politischen Abteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland und verweist auf den zunehmenden Antisemitismus in vielen Staaten Europas. »Würdiges Gedenken hat vor diesem Hintergrund einen ganz besonderen Stellenwert.«
Auch Boglárka Palkó, Kommunikationschefin der Jugendgruppe des Verbands jüdischer Gemeinden Ungarns (MAZSIHISZ), ist emotional sehr bewegt und sucht nach den richtigen Worten. »Éva Fahidi-Pusztais Geschichte erinnert mich an meine eigenen Großeltern, die Ähnliches erlitten haben.« Und Kata Fris, Mitarbeiterin der Jakab Glásar Memorial Foundation in Budapest, weiß aus ihrer Arbeit mit Überlebenden zu berichten, dass viele erst im hohen Alter über die Schrecken der Lager reden können.
Rechtskurs Dass diese Begegnung ausgerechnet in der Botschaft Ungarns stattfand, hat einen ganz besonderen Grund: Das Land hat derzeit den Vorsitz der 1998 ins Leben gerufenen Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA). Keine leichte Aufgabe, denn der stramme Rechtskurs der Regierung von Victor Orbán und das autoritäre Auftreten des Premiers verursachen nicht nur den knapp 90.000 Juden Ungarns Kopfschmerzen. Zwar hat der Ministerpräsident im Januar dieses Jahres erstmals eine Mitschuld seines Landes an der Deportation der Mehrheit der damals über 800.000 Juden eingeräumt, doch gleichzeitig betreiben er und einige seiner Minister munter Geschichtsrevisionismus und lassen den eng mit den Nazis kollaborierenden Reichsverweser und langjährigen Diktator Miklós Horthy nostalgisch hochleben.
Genau diese irritierende Ambivalenz war auch in der Rede von Botschafter József Czukor zu spüren, als er erklärte: »Ungarn waren es, die mit der deutschen Gestapo kooperierten und damit zu Helfershelfern und Tätern wurden.« Andererseits warb der Diplomat eine Spur zu offensiv um Verständnis für die aktuelle ungarische Politik, die irgendwie nicht zu den Bekenntnissen von Verantwortung und der Bereitschaft zur Aufarbeitung der Geschichte passen will, und verbat sich darüber hinaus jegliche Einmischung oder Kritik von außen.
Wie die Situation heute für junge Juden aussieht, davon konnte Boglárka Palkó einen Eindruck vermitteln. »Mit einem Davidstern an der Halskette kann man eigentlich ziemlich unbelästigt durch Budapest gehen«, erklärt die junge Frau. »Aber es gibt einen ganz spezifischen Salon-Antisemitismus«, sagt sie, und Éva Fahidi-Pusztai nickt. »Er kommt kodiert in der Alltagssprache daher und ist fest in ihr verwurzelt.« Und Kata Fris ergänzt: »Nach wie vor werden Juden, aber auch Sinti und Roma für alles, was im Land falsch läuft, verantwortlich gemacht.«