Perspektive

Dieser Tag

Am 8. April 2022 wurde der gleiche Bahnhof, wo dieser Veteran 2017 stand, von mehreren russischen Raketen getroffen. Foto: Igor Mitchnik

Dieses Datum bedrückt mich zutiefst. Wie der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky in seiner heutigen Ansprache deutlich macht, werden sich die jetzigen und kommenden Generationen der Europäerinnen und Europäer beim Anblick unmenschlicher Gräuel aus dem Zweiten Weltkrieg zugleich auch die Gräuel gegen die Zivilbevölkerung in Bildern aus Bucha, Irpin, Izium, Mariupol, Avdiivka, Bakhmut und vielen anderen Orten vor ihrem geistigen und realen Auge sehen.

Wer in den vergangenen Jahren, so wie auf dem Foto vom 9. Mai aus Kramatorsk, das ich 2017 am Bahnhof dort aufgenommen hatte, ukrainische Veteranen in ihren Uniformen gesehen hat und ihre müden Erinnerungen daran gehört hat, dass wir die Gräuel des Krieges nie vergessen dürften, sollte verstehen, welchen unglaublichen Schmerz dieses heutige Datum auslösen kann.

Ich bin in meiner post-sowjetischen Familie aufgewachsen, umgeben von den typischen Heldenmythen, in denen sich Großväter – wobei Frauen, wie vielen von uns schmerzlich bekannt ist, eine sehr passive Rolle zugewiesen bekamen – für das Ende des sogenannten Hitlerfaschismus geopfert haben. Sei es direkt mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder sogar – auch wenn niemand es leider so genannt hat – mit ihrer psychischen Gesundheit.

Dass sich mein Urgroßvater nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermutlich nicht einfach so in den Tod getrunken hatte, wurde bei uns kaum reflektiert. Psychische Gesundheit blieb tabu.

Zerbrochene Weltbilder

Die Tatsache, dass ein Teil meiner Verwandten zudem in Güterzügen von den Sowjets nach Sibirien verfrachtet wurde und mindestens zwei Urgroßväter in den Gulags einfach deshalb, weil sie vermeintlich einen Pelz mehr besaßen als ihre Nachbarn, bei der sowjetischen Zwangsarbeit zu Tode repressiert wurden, passte schon damals nicht ins Bild. Aber diese kognitive Dissonanz zieht sich bei vielen von uns, bei denen dieser Tag zuhause eine gewichtige Rolle gespielt hat, durch die Familien.

Das hat nicht erst Svetlana Alexievich in ihrem Buch Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus darstellen müssen. Aber spätestens ab 2014, seit dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine, kollabierten Weltbilder nach und nach komplett.

Den 9. Mai nimmt man in meiner Familie nur noch stillschweigend wahr, in sich gekehrt und in tiefer Demut. Den offenen Faschos und Proto-Faschos, die sich inzwischen so zahlreich am sowjetischen Ehrenmal am Treptower Park tummeln, will man nicht mal in gedanklicher Sichtweite sein.

Von lange empfundener »jüdischer Selbstermächtigung« in Angesicht der deutschen Gaskammern — einem alternativen Narrativ, das die in Westdeutschland gängige reine Opferrolle von Jüdinnen und Juden im zweiten Weltkrieg um den jüdischen Widerstandsaspekt erweitern sollte – haben die geopolitischen Umbrüche der vergangenen Jahre für mich rein gar nichts übrig lassen können.

Zudem haben mich die Perspektiven der baltischen Staaten geprägt, auf die seit 2022 in ihrer sicherheitspolitischen Weitsicht noch viel mehr Augenmerk gerichtet werden sollte. Die Bilder von Güterzügen, Stacheldraht, gezieltem Aushungern von Menschen und willkürlicher Gewalt in Haft haben in den baltischen Staaten und auch in der Westukraine in der Bevölkerung nicht weniger Assoziationen mit sowjetischer Gewaltherrschaft als mit der Nazibesatzung hinterlassen.

Das Ende der Friedensdividende

Die Stadt Kramatorsk, in der Region Donezk, widerstand 2014 bereits russischer Gewaltherrschaft. Seit 2022 ist diese Stadt regelmäßig unter russischem Beschuss.

Am 8. April 2022 wurde der gleiche Bahnhof, wo dieser Veteran 2017 stand, von mehreren russischen Raketen getroffen. Nach Angaben der lokalen Behörden befanden sich zum Zeitpunkt des Angriffs mehr als 1000 Menschen am Bahnhof, hauptsächlich Frauen und Kinder, die auf ihre Evakuierung warteten. 57 Menschen starben und mehr als hundert wurden verletzt.

Die anhaltenden russischen Verbrechen sowie die unmenschlichen Zustände in anderen Teilen der Welt machen deutlich, dass es heute leider nichts zu feiern gibt … und geben kann. Es kann uns höchstens daran erinnern, dass unsere Zeit als Deutsche, die über Generationen von der Friedensdividende profitierten, eindeutig vorüber ist. Und an den Fakt, dass Nazideutschland für die bedingungslose Kapitulation besetzt und zum Wohle der Zukunft Deutschlands und Europa aufgeteilt werden werden musste. Eine demokratische Zukunft und Gegenwart, mit all ihren Herausforderungen, die Russland sich zum Feind erklärt hat.

Der Autor arbeitet als Erster Geschäftsführer des Osteuropavereins Austausch e.V. in Berlin.

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