Leonid Lewin hat aus den Papierbergen auf seinem Schreibtisch ein Blatt gefischt und zeichnet darauf die Zahl 1.147. Noch einmal zieht er mit dem Bleistift die Striche nach: 1.147. So viele Juden haben die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg aus mehreren Dörfern in der Hügellandschaft von Weißrussland zusammengetrieben und erschossen. 1.147 Steine hat der Architekt und Bildhauer Leonid Lewin von den Menschen, die heute in den Dörfern leben, zusammentragen lassen. Wie ein Fluss, wie ein Menschenstrom, zum Tal hin breiter werdend, liegen die Steine in der Nähe des Dorfes Gorodoje. Oben auf den Hügel hat Lewin drei Fensterrahmen gesetzt, ein wenig verschoben, als wären sie vom Wind zerzaust. Wie die Betrachter heute durch diese Rahmen schauen und die zarte Landschaft sehen, haben die Bewohner zum letzten Mal auf diese Gegend geschaut, die ihre Heimat war. Eine Gedenkstätte als Landschaftskunst.
Bundesverdienstkreuz Seit den 60er-Jahren gestaltet Leonid Lewin Orte der Erinnerung an die Opfer der deutschen Besatzung in Weißrussland. Sie erinnern an drei Millionen Menschen. Jeder dritte Einwohner wurde zwischen 1941 und 1944 getötet. Der 73-jährige Lewin begegnet Deutschen dennoch nicht hasserfüllt. Im Gegenteil. Als Künstler und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden Weißrusslands setzt er sich dafür ein, »zwischen unseren Ländern Brücken zu bauen«. Dafür wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. An diesem Mittwoch waren Bilder seiner Werke erstmals in Deutschland zu sehen, in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens in Berlin.
Wie eine sanfte Picasso-Version sieht Leonid Lewin aus mit seinem kahlen Schädel und den leuchtenden braunen Augen. Wenn er von den jüdischen Gemeinden spricht, verdüstert sich sein Blick ein wenig. Die Gemeinden in den Städten Minsk und Witebsk, der Heimat von Mark Chagall, sind klein. 800.000 Juden wurden in den Vernichtungslagern der Deutschen in Weißrussland umgebracht. Die wenigen Überlebenden sollten nach dem Krieg nach Birobidschan, das »Jüdische Autonome Gebiet« der Sowjetunion, deportiert werden. Doch Stalin starb, bevor er den Befehl dazu geben konnte. »Der Allmächtige hat durch Stalins Tod diesen Plan verhindert«, sagt Leonid Lewin und fügt hinzu: »Es dauert drei Generationen, die Empfindungen dieser Sklaverei zu vergessen. Das ist unsere Wüstenwanderung«.
Lewin stützt sich auf seinen Schreibtisch. Skizzen, Modelle und Materialien überall, die Räume seines Ateliers sind vollgestopft; Fotos seiner Hochhäuser, Bilder von der nationalen Gedenkstätte in Chatyn, die er in den 60er-Jahren schuf. Ein Modell der Synagoge von Minsk. Lewins Tochter Galina – auch sie ist Architektin – hat sie entworfen und erbaut. Seit etwa fünf Jahren ist sie fertig, eröffnet aber ist sie noch nicht. Die drei Richtungen des Judentums, die in Belarus ihre Anhänger haben, können sich nicht einigen, wer die Synagoge unterhalten soll. So streiten sich die orthodoxe Union der religiösen jüdischen Gemeinden, die Union des progressiven Judentums und Chabad noch. Leonid Lewin sagt dazu nichts, aber sein Blick wird noch ein wenig düsterer.
Haltung Lewin selbst ist kein frommer Mann. »Die Religion bedeutet mir nicht viel. Aber die Menschen in den Gemeinden haben mich zu dem gemacht, der ich bin.« Dieses Glück, diesen Stolz will er weitergeben. Aber Menschen, die Opfer zweier Diktaturen waren, können diese Haltung nicht so leicht übernehmen. Zumal sie in ihrem Staat bisher kaum anerkannt waren.
Erst in jüngster Zeit gibt es Anzeichen dafür, dass wenigstens das Leid der Juden endlich gesehen wird. Präsident Viktor Lukaschenko hat sie in einer Rede zum Jahrestag der Befreiung des Minsker Ghettos 1943 erstmals als Opfer benannt. Lukaschenko hielt seine Rede in der Jama, dem früheren Sammelplatz im Ghetto von Minsk. Auch diesen Ort hat Leonid Lewin zur Gedenkstätte umgestaltet.
Neben einer Treppe in die Tiefe, auf der Juden ihrer Deportation entgegengingen, gehen heute Gestalten aus Bronze – menschengroß, ein wenig stilisiert – auf den Sammelplatz zu. Künstlerisch erinnern sie an Rodins »Bürger von Calais«, aber sie warten nicht, sondern gehen ihren letzten Weg, einige klagend, andere dem Schicksal ergeben mit ihren Kindern an der Hand. Die letzte Frau in der Reihe spielt auf ihrer Geige. Wer heute in die Jama geht, begleitet diese Menschen, oft unter Tränen, weil ihre Wehklage so unmittelbar lebendig ist.
schlichtheit »Ich habe meine Bilder im Herzen«, sagt Leonid Lewin. Er hat sie allein entwickelt. Er wurde weder angefeuert noch behindert von einer öffentlichen Debatte um seine Gedenkstätten. Woher er den Mut hatte, schon in der Zeit der Sowjetunion, in der Erinnerungsorte martialisch sein mussten, schlichte Werke zu schaffen? »Ich weiß es nicht«, sagt er und wirkt für einen Augenblick etwas kleiner inmitten seiner Arbeiten. Aber in seinem aufkommenden Lächeln liegt das Selbstbewusstsein eines Menschen, der offenbar keine Kompromisse eingegangen ist.
Lewin klagt die Täter nicht an, er stellt keine bestialischen Aktionen dar. Eine Schulklasse mit drei Reihen weißer Schulbänke aus Beton. Die Bänke sind leer. Sie erinnern in Krasni Berek, einen kleinen Ort im Südosten des Landes, an ein Konzentrationslager für Kinder. »Weil diese Kinder nicht leben durften, haben alle Menschen einen Teil ihrer Kindheit verloren«, sagt Lewin und hat deshalb alles, was ein Kinderleben möbliert, überdimensional groß nachgebaut: Er hat Kinderbilder wie Kirchenfenster gestaltet und mittendrin ein Segelschiff, wie man es aus Papier faltet.
Er zeichnet wieder. Schulbänke mit starken Strichen. »Unter der Klappe meiner Schulbank hatte ich ein ganzes Reich von Schätzen«, sagt er. Mit sechs Jahren, 1942, floh er mit seinen Großeltern nach Kirgisien und überlebte dort die Schoa. Er zeichnet weiter. Noch einen Strich. Lewin liebt Klarheit. Japanische Kunst und Philosophie mit ihrer Liebe zur schlichten Linie und einfachen Gegenständen haben ihn dazu inspiriert. Judentum, japanisches Gedankengut und die Verbindung zu Deutschland: Aus diesen Quellen hat Leonid Lewin ein Werk geschaffen, das in Europa einmalig ist.