Es ist der wohl ungewöhnlichste amerikanische Präsidentschaftswahlkampf seit Menschengedenken, der die Netflix-Serie House of Cards streckenweise wie eine fade Polit-Doku wirken lässt: Ein 78-jähriger Ex-Präsident sinnt auf Revanche gegen den 81-jährigen Amtsinhaber, der ihn vor vier Jahren knapp besiegt hat. Bei einer Wahlkampfveranstaltung wird der Herausforderer von einem Mitglied seiner eigenen Partei fast erschossen, was jedoch seine Siegeschancen steigert.
Gleichzeitig gibt der amtierende Präsident nur zwei Wochen vor dem Parteitag seiner politischen Formation seine Kandidatur auf, um seiner Vizepräsidentin Platz zu machen. Die wiederum könnte nun als erste Präsidentin in der 248-jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten ins Weiße Haus einziehen, als erste Person mit asiatischen Wurzeln.
Harris’ Mutter Shyamala Gopalan wuchs im indischen Chennai auf und kam als Medizinstudentin in die USA. Dort lernte sie den Jamaikaner Donald Harris kennen, der später Karriere als Wirtschaftsprofessor an der Stanford University machte.
Die beiden heirateten 1963 und bekamen zwei Töchter, Kamala und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Maya. Kamala Harris studierte Jura und wurde 2003 zur Bezirksstaatsanwältin in San Francisco gewählt. 2010 gewann sie die Wahl zur Generalstaatsanwältin und Chefanklägerin von Kalifornien und profilierte sich mit einem dezidierten Law-and-Order-Kurs. Vier Jahre später wurde sie wiedergewählt.
Als US-Senatorin versuchte sie, Trump Paroli zu bieten
2016 trat die damals 52-Jährige für einen der beiden Senatssitze des bevölkerungsreichsten Bundesstaates an – und gewann. Als US-Senatorin versuchte sie, dem damals amtierenden Präsidenten Donald Trump Paroli zu bieten und Vorhaben wie eine Reform der Waffengesetze, ein liberaleres Einwanderungsrecht oder die Freigabe von Cannabis voranzutreiben. Das war nicht immer von Erfolg gekrönt. Auch Trumps Vorschlag für den Obersten Gerichtshof, den wegen Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs in dessen Studentenzeit umstrittenen Brett Kavanaugh, konnte Harris nicht verhindern.
Trotz vieler Vorschusslorbeeren scheiterte ihre Bewerbung für die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten Anfang 2020 grandios. Sie konnte im Vorwahlkampf nicht punkten. Damals waren die Zweifel zu groß, ob sie die Richtige sei, um Donald Trump zu schlagen.
Am Ende machte der Politveteran Joe Biden, der von 2009 bis 2017 Vize von Präsident Barack Obama gewesen war, das Rennen, obwohl auch er einen holprigen Start hingelegt hatte. Dann wählte Biden überraschend Harris als seine »Running Mate« aus – die Senatorin war plötzlich zurück im Spiel.
Wichtige Auslandsreisen unternahm Harris kaum, auch nicht nach Israel.
Im Schlepptau des Präsidenten zog sie doch noch ins Weiße Haus ein – als erste weibliche Vizepräsidentin überhaupt. In einen auffälligen lila Mantel gehüllt, wurde sie am 20. Januar 2021 vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofs vereidigt und überstrahlte bei der Zeremonie auf dem Kapitolshügel fast ein wenig den 22 Jahre älteren, ganz in Schwarz gekleideten Präsidenten.
Doch schnell wurde auch ihr jene undankbare Rolle zuteil, die schon viele »VPs« vor ihr akzeptieren mussten: Sie hatte keine klar definierte Aufgabe, kam als »Reserve-Rad« selten zum Einsatz. Zwar sollte sich Harris im Auftrag Bidens um die Eindämmung der Zuwanderung an der Grenze zu Mexiko kümmern. Doch das gelang ihr nicht wirklich. 2023 stieg die Zahl der irregulären Grenzübertritte auf ein Rekordhoch.
Im Gegensatz zu Biden, der sich in seiner Zeit als Obama-Vize außenpolitisch zu profilieren versucht und als Ex-Officio-Präsident des Senats eine wichtige Rolle gespielt hatte, blieb Harris eher blass. Wichtige Auslandsreisen unternahm sie kaum, auch nicht nach Israel, und bei Themen wie dem Nahostkonflikt spuckte sie Biden nicht in die Suppe.
Signal der Verlässlichkeit
Ihre Beliebtheitswerte gingen peu à peu in den Keller. Auch in der Demokratischen Partei fragten sich viele, ob die Vizepräsidentin im Fall der Fälle Biden würde ersetzen können. Doch der Präsident hielt an ihr fest, nahm sie frühzeitig wieder auf sein »Ticket« für die von ihm fast schon selbstverständlich angestrebte zweite Amtszeit.
Biden tat dies wohl nicht nur aus Loyalität, sondern auch, um ein Signal der Verlässlichkeit auszusenden, denn traditionell werden Amtsinhaber, die sich erneut um ein Amt bewerben, nicht an ihren Versprechungen gemessen, sondern an ihrem »Record«, den Ergebnissen ihrer Politik.
Doch Bidens Aussetzer bei der TV-Debatte gegen Donald Trump Ende Juni und bei einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den er als »Präsident Putin« ansprach, lösten bei den Demokraten eine Debatte aus, die Kamala Harris nun sogar ganz nach oben bringen könnte. Bis zum Wochenende hatte der 81-jährige, zuletzt an Covid erkrankte Biden sich hartnäckig gegen Forderungen gewehrt, er möge auf die erneute Kandidatur doch noch verzichten. Parteifreunde sahen seine Siegchancen gegen Trump noch schneller dahinschwinden als seine rhetorischen Leistungen.
Im besten Interesse der Partei und des Landes
Am Samstag traf Biden dann die von vielen erhoffte Entscheidung und warf das Handtuch. Laut »New York Times« bat er erst am Samstag zwei seiner engsten Mitarbeiter, in sein Feriendomizil Rehoboth Beach, drei Autostunden östlich von Washington, zu kommen, um ein Schreiben aufzusetzen, mit dem er den Verzicht auf die Kandidatur bekannt geben wollte. Eine Ansprache an die Nation vermied Biden zunächst – wohl mit Rücksicht auf seine gesundheitliche Verfassung.
Am Sonntag um 13.46 Uhr Ortszeit wurde der Brief dann auf der Plattform X gepostet: »Obwohl es meine Absicht war, mich um eine Wiederwahl zu bemühen, glaube ich, dass es im besten Interesse meiner Partei und des Landes ist, wenn ich zurücktrete und mich für den Rest meiner Amtszeit auf die Erfüllung meiner Pflichten als Präsident konzentriere«, schrieb Biden an seine »Fellow Americans«.
Nicht einmal eine halbe Stunde später folgte ein zweiter offener Brief. Darin richtete Biden sich speziell an seine »Fellow Democrats« – und empfahl ihnen, die Präsidentschaftskandidatur der Partei seiner Vizepräsidentin Kamala Harris zu übertragen. »Meine erste Entscheidung als Kandidat der Partei im Jahr 2020 war es, Kamala Harris als meine Vizepräsidentin auszuwählen. Und es war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.«
Keine 48 Stunden später hatte seine Vizepräsidentin, die im Oktober 60 Jahre alt wird, bei Auftritten aber deutlich jünger wirkt und mit ihrem überbordenden Lachen ganz anders ist als viele amerikanische Politiker, schon eine Mehrheit der Delegierten des Wahlparteitags beisammen. Parteigrößen wie Bill Clinton und im Vorfeld als mögliche Alternativen zu Harris gehandelte Politiker wie Michigans Gouverneurin Gretchen Whitmer veröffentlichten nicht nur Elogen auf den scheidenden Präsidenten, sondern scharten sich hinter dessen Wunschnachfolgerin.
Rekordspenden nach Bidens Bekanntgabe
Auch finanzielle Erwägungen dürften bei der demonstrativen Geschlossenheit der Demokraten eine Rolle gespielt haben. Denn die von Biden und Harris eingesammelten Wahlkampfspenden in Höhe von fast 100 Millionen Dollar können nicht einfach auf andere Kandidaten übertragen werden. Während Harris für ihre Kampagne aus dem Vollen schöpfen kann, hätten ihre Konkurrenten das Fundraising erst aufbauen müssen – angesichts der verbleibenden Zeit bis zur Wahl Anfang November fast ein Ding der Unmöglichkeit. Die demokratischen Geldgeber scheinen von der Kandidatin Harris jedenfalls angetan zu sein: In den ersten 24 Stunden nach der Bekanntgabe Bidens gingen rund 81 Millionen Dollar an Kleinspenden ein – auch das rekordverdächtig.
Harris dürfte nun schon vor dem Parteitag der Demokraten, der vom 19. bis 21. August in Chicago stattfinden wird, per Akklamation nominiert werden. Das ist auch nötig, um die Frist für die Einreichung des Wahlvorschlags im Bundesstaat Ohio einzuhalten.
Obwohl im Kongress viele jüdische Politiker sitzen, hat es bislang kein Jude ins Weiße Haus geschafft
Wen Kamala Harris sich als »Running Mate« aussucht, bleibt hingegen spannend. Donald Trump hatte beim Parteitag seiner Republikaner in Milwaukee den 39-jährigen Senator J. D. Vance aus dem Hut gezaubert, der früher einer seiner schärfsten Kritiker war, seit einigen Jahren aber ganz auf Trumps Linie liegt. Vance bezeichnete die kinderlose Harris abschätzig als »Cat Lady« und sprach ihr die Kompetenz ab, das Land zu führen. Trump selbst nannte seine Gegnerin »strohdumm«.
Beobachter erwarten, dass Harris sich einen männlichen »Running Mate« an die Seite holen wird, der in Bundesstaaten wie Pennsylvania, Ohio oder Michigan bei den Wählern punkten kann, in denen Harris womöglich als Vertreterin einer liberalen Elite wahrgenommen wird.
Jüdische »Running Mates«?
Als mögliche VP-Kandidaten werden unter anderem die Gouverneure von Pennsylvania, Josh Shapiro, und von Illinois, Jay Pritzker, gehandelt. Beide sind jüdisch. Pritzker ist Spross einer der reichsten Familien Chicagos, die unter anderem die Hyatt-Hotelkette ihr Eigen nennt. Sein Vermögen wird auf mehr als drei Milliarden US-Dollar geschätzt – mehr als das von Donald Trump. Seit 2019 ist Pritzker Regierungschef von Illinois. Pritzkers ältere Schwester Penny war einst Ministerin in der Obama-Regierung.
Josh Shapiro amtiert seit Anfang 2023 als Gouverneur von Pennsylvania. Zuvor war er Generalstaatsanwalt seines Bundesstaates, wie Kamala Harris vor ihm in Kalifornien. Auch ihm werden Ambitionen auf das Weiße Haus nachgesagt. Und wie er stehen nun viele Spitzenpolitiker der Demokraten vor der Frage, ob sie Bidens Empfehlung für Harris unterstützen oder selbst ihren Hut in den Ring werfen.
Obwohl im US-Kongress traditionell viele jüdische Politiker vertreten sind – der 2023 gegründete »Jewish Caucus« umfasst 36 Mitglieder, die allermeisten davon Demokraten –, hat es bislang kein Jude ins Weiße Haus geschafft. Der kürzlich verstorbene Senator Joe Lieberman, der als »Running Mate« von Al Gore gegen George W. Bush und Dick Cheney antrat und knapp verlor, kam dem Ziel im Jahr 2000 am nächsten.
Noch ist unklar, ob Kamala Harris einen jüdischen Partner wählen wird.
Für einen hat sie sich allerdings schon vor Jahren entschieden: Douglas Emhoff. Am 22. August feiert das Paar seinen zehnten Hochzeitstag. Der Rechtsanwalt aus New York darf sich für den Fall, dass Harris am 5. November Donald Trump bezwingt, große Hoffnungen auf den Einzug ins Weiße Haus machen. Der jüdische Gatte würde dann vom »Second« zum »First Gentleman« aufrücken. Auch das wäre ein Novum in der US-Geschichte.